Ursachen von Gewalt
Auslöser und Risikofaktoren für Gewalt an Kindern
Neben den Ursachentheorien werden für den Bereich „Gewalt gegen Kinder“ auch Auslöser und Risikofaktoren für Übergriffe genannt. Zum besseren Verständnis der Vielschichtigkeit der Problematik folgt ein kurzer Überblick über diese Faktoren, gegliedert nach Gewaltformen.
Physische Gewalt an Kindern
Personenzentrierte Faktoren
Zahlreiche Studien versuchten in den letzten drei Jahrzehnten das Profil einer „Misshandlungspersönlichkeit“ zu entwickeln – bislang ohne Erfolg. Die Analyse von Persönlichkeitsmerkmalen sowie von Persönlichkeitsstörungen und krankhaften Defekten machte es jedoch möglich, Faktoren zu definieren, die ein hohes Risiko für Kindesmisshandlung darstellen. Dazu zählen:
- der Entzug der mütterlichen Zuneigung in der eigenen Kindheit,
- eine durch Gewalt geprägte eigene Kindheit,
- Borderline-Persönlichkeiten mit schweren Ich-Konflikten,
- mangelnde Ich-Entwicklung und -Identität,
- hohe Ängstlichkeit und Depressivität,
- geringes Selbstwertgefühl,
- verminderte Aggressionskontrolle und Frustrationstoleranz,
- erhöhte Stress- und Konfliktanfälligkeit wegen mangelnder Bewältigungsmechanismen, etc.
Dennoch bedeuten die angeführten Kriterien nicht, dass Menschen mit diesen Eigenschaften zwingend zu Kindesmisshandler/innen werden, die Charakteristika erhöhen lediglich das Risiko. Zudem liegen Untersuchungen vor, die zeigen, dass Erfahrungen in der frühen Kindheit nicht langfristig prägend sind, wenn sie durch positive Erfahrungen im späteren Verlauf der Kindheit ausgeglichen werden.
Familienbezogene Faktoren
Das Spektrum der familienbezogenen Risikofaktoren ist sehr breit. So wurde festgestellt, dass Frühgeburten und untergewichtige Kinder überproportional oft misshandelt werden. Die möglichen Gründe könnten lauten: Die Betreuung dieser Kinder ist schwieriger als die normalgewichtiger Säuglinge. Die häufig erforderlichen Krankenhausaufenthalte stören oder gefährden den Aufbau der Mutter-Kind-Beziehung. Empirisch belegt konnten diese Annahmen jedoch nicht werden.
Mehrere Untersuchungen bestätigen einen Zusammenhang zwischen Misshandlung und häufigen Erkrankungen des Kindes im ersten Lebensjahr. Kranke Kinder schreien häufiger und sind schwer zu beruhigen. Daraus können Gefühle der Ohnmacht und Überforderung resultieren, die mitunter in Misshandlungen münden.
Kein empirischer Beleg konnte für die These gefunden werden, dass so genannte „schwierige“ Kinder stärker gefährdet sind, misshandelt zu werden. Ein Grund mag darin liegen, dass in den bisher vorliegenden Studien nur Charaktereigenschaften und Verhaltensmerkmale des Kindes als Untersuchungsbasis herangezogen wurden, nicht aber die Interaktion zwischen Kind und Eltern.
Relativ gut wissenschaftlich abgesichert ist auch die Annahme, dass Überforderung oder gar erzieherische Unfähigkeit der Eltern ein hohes Misshandlungsrisiko in sich birgt. Dazu kommt, dass Eltern ihre Kinder mit zu hohen Erwartungen belasten.
Unrealistische und unerfüllte Erwartungen der Eltern sind oft mit Stress gekoppelt. Sie können auch zu Frustrationen und in der Folge zu gewalttätigen Bestrafungen der Kinder führen.
Neben Stress zählen Krisen und Belastungen in der Familie zu den Risikofaktoren für Gewalt an Kindern. Dabei kann es sich um Stress handeln, der von den Kindern verursacht wird, oder um persönlichen, finanziellen und beruflichen Stress.
Im Allgemeinen sind jüngere Kinder unter diesen Voraussetzungen mehr von Gewalt betroffen als ältere. Sie beanspruchen die Eltern, vor allem die Mutter, stärker, was wiederum zu mehr Stress führen kann.
Soziale Faktoren
Einige Wissenschafter/innen gehen davon aus, dass das innerfamiliäre Gewaltpotenzial durch spezifische, meist ungünstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Familien sowie einzelne Familienmitglieder belasten, erhöht wird. Dazu zählen
- Stressfaktoren wie Armut, beengte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Isolation oder
- Umweltbelastungen wie Lärm, Luftverschmutzung, räumliche Dichte und Beengtheit sowie
- soziale Normen und Werte und
- die Akzeptanz des Ausmaßes von Gewalt als Mittel zur Konfliktaustragung.
Studien, die sich mit den oben aufgezählten Belastungsfaktoren beschäftigt haben, bewerten die Bedeutung der einzelnen Faktoren unterschiedlich. Neuere Untersuchungsergebnisse weisen darauf hin, dass die sozialen Faktoren alleine keine ausreichende Erklärung für Gewalt bieten können.
Nach diesen Erkenntnissen müssen auch die personen- und familienzentrierten Faktoren berücksichtigt werden. Verbunden mit ungünstigen gesellschaftlichen Strukturbedingungen ist die Gefahr der sozialen Isolation, ein Problem, das gerade in Krisensituationen Stress verstärkt. Soziale Isolation scheint vor allem bei der Vernachlässigung von Kindern eine große Rolle zu spielen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass das bloße Vorhandensein von informellen (Familie, Freund/innen) und professionellen Unterstützungssystemen (Behörden und Sozialeinrichtungen) nicht ausreicht, um die Gefahr der sozialen Isolation abzuwenden – entscheidend ist die Qualität der Unterstützung.
Ähnlich dem feministischen Ansatz lässt sich Gewalt gegen Kinder auch mit den modernen kapitalistischen Gesellschaften innewohnenden strukturellen Faktoren erklären. Die Familie ist demnach durch ihre hierarchische Struktur und Ungleichverteilung von Macht und Ressourcen ein Abbild der strukturellen Gewalt in der Gesellschaft. Kinder sind vergleichsweise machtlos, benachteiligt und vor körperlichen Übergriffen wenig geschützt. Im Zusammenhang damit steht auch die Akzeptanz von Gewalt.
Im Mittelpunkt dieses Ansatzes stehen daher nicht Motive der Täter/innen, sondern die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die ein gewisses Maß an Gewaltanwendung in zwischenmenschlichen Beziehungen tolerieren.
Integrative Ansätze
Aus der Erkenntnis, dass keine der biologischen, psychologischen oder soziologischen Theorien eine ausreichende Basis für die Erklärung von Gewalt liefern konnte, entstanden die so genannten „integrativen Ansätze“. Sie beziehen ein breites Spektrum möglicher Auslöser und Risikofaktoren ein. Ein Beispiel hierfür ist ein Erklärungsmodell, das Gewalt an Kindern als ethno-psychologische Störung definiert. Es integriert die historische, soziologische, psychologische sowie psychoanalytische Dimension von Gewalt und stellt Gewalt an Kindern in einen umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhang. Zu den Faktoren zählen:
- Gesellschaftliche Strukturprobleme (Entfremdung, Konkurrenz und Isolierung bei gleichzeitigem Verlust von verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen in kapitalistischen Produktionsverhältnissen).
- Eltern-Kind-Beziehungen basieren auf einer autoritären Erziehungstradition und sind geprägt von gesellschaftlichen Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnissen.
- Die Anforderungen an die Familie in punkto Kindererziehung haben enorm zugenommen, die Chancen, die Aufgaben zu bewältigen, jedoch abgenommen.
- Eltern, die die Beziehung zur eigenen Mutter als wenig liebevoll erfahren haben, können in Krisensituation dazu neigen, Gewalt als Konfliktlösungsmöglichkeit einzusetzen.
- Ein weiterer integrativer Erklärungsansatz unterstreicht die wechselseitige Beeinflussung von Menschen und ihrer Umwelt. Kernaussage ist, dass Gewalt an Kindern kein familieninternes Problem, sondern Indiz für einen Mangel an Ressourcen ist.
Psychische Gewalt an Kindern
Es liegen kaum wissenschaftliche Arbeiten zum Thema psychische Gewalt an Kindern vor. Ein Grund dafür mag sein, dass seelische Verletzungen nur schwer nachzuweisen sind. Die Grenzen zwischen gesellschaftlich akzeptiertem Erziehungsverhalten und psychischer Gewalt sind fließend.
Einer der wenigen verfügbaren Erklärungsansätze sieht psychische Gewalt als Ausdruck des Machtkampfes zwischen Erwachsenen und Kindern. Dieser Machtkampf beruht auf der Einstellung, dass das Kind vom Erwachsenen nur zu lernen und sich ihm anzupassen hat.
Als Formen psychischer Gewalt werden verächtliche Behandlung, Zwang zu demütigender und Ekel erregender Tätigkeit, das Einjagen von Furcht und Schrecken sowie das Verbot des Umgangs mit anderen Kindern genannt.
Zunehmend wird auch der auf Kinder ausgeübte Leistungsdruck als psychische Gewalt eingestuft. Auch das (un-)mittelbare Miterleben von Gewalt unter den Eltern - meist in Form männlicher Gewalt an Frauen - ist psychische Gewalt an Kindern. Bei eskalierender Gewalt sind in 70 - 90 % der Fälle Kinder "stumme Zeugen" (Schrul et al).
Sexualisierte Gewalt an Kindern
Wie auch bei den anderen Formen von Gewalt liegen verschiedene Modelle zur Erklärung der Ursachen vor, wobei Ansätze, die sexuelle Gewaltakte an Kindern personen- oder familienzentriert erklären, mittlerweile als nicht ausreichend angesehen werden.
Empirische Studien konnten kein einheitliches Täter/innenprofil feststellen (Herkunft, soziale Schicht, Randgruppe). Es scheint daher notwendig, auch das Vorkommen sexueller Gewalt im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu betrachten und die geschlechtsspezifischen Faktoren mit in die Analyse einzubeziehen.
Integrative Theorien, die mehrere Faktoren für sexuelle Gewalt verantwortlich machen, haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.