Infos für Mediziner/innen
Erkennen von Gewalt an Frauen
(Aus: BMWFJ (Hg.): Gesundheitliche Versorgung gewaltbetroffener Frauen. Ein Leitfaden für Krankenhaus und medizinische Praxis, Wien 2010)
Anzeichen gewaltbedingter Verletzungen und Beschwerden
Praxen und Krankenhäuser werden häufig von gewaltbetroffenen Frauen auf der Suche nach Hilfe kontaktiert. Die Diagnostik und Beratung bestimmen ganz wesentlich das weitere Geschehen, sowohl die forensisch relevante Aufklärung einer Gewalttat wie auch die konkrete Unterstützung in einer Notsituation.
Neben den für Anamnese und Diagnostik relevanten Indikatoren gibt es Verhaltensweisen von Patientinnen und Begleitpersonen, die einen Gewalthintergrund vermuten lassen.
- Patientin wirkt ängstlich, verschüchtert, meidet Blickkontakt
- Patientin versucht Verletzungen zu verdecken oder herunterzuspielen
- Erklärungen zum Entstehen der Verletzung stimmen nicht mit Art und Lage der Verletzung überein. Erklärungen sind lückenhaft und/oder widersprüchlich
- Begleitung durch überfürsorglichen oder aggressiven Partner, der darauf besteht, in der Nähe der Frau zu bleiben, oder die Fragen an ihrer Stelle beantwortet
- Der begleitende Partner ist verletzt, insbesondere an den Händen oder im Gesicht
- Verschleppte Termine, unerklärlicher Zeitraum zwischen Verletzung und dem Aufsuchen medizinischer Hilfe
- Wiederholte Besuche wegen verschiedenartiger multipler Beschwerden
- Besuch von Notfallambulanzen und Unfallstationen erfolgt nachts, am Wochenende bzw. außerhalb der Öffnungszeiten von Arztpraxen.
Die genannten Symptome und Auffälligkeiten können mögliche Indizien von aktueller oder zurückliegender Gewalt sein, müssen aber nicht in jedem Fall mit häuslicher Gewalt in Zusammenhang stehen. Allerdings erhöht das Auftreten mehrerer körperlicher und psychischer Symptome die Wahrscheinlichkeit einer Gewalttat.
Da viele Frauen und Mädchen nicht einmalig, sondern regelmäßig misshandelt werden, sind oft mehrere körperliche Indikatoren diagnostizierbar. Häufig sind multiple Verletzungsformen in unterschiedlicher Schwere in unterschiedlichen Heilungsstadien erkennbar, z. B. Hämatome durch Schläge, verheilte Bisswunden, Kratzspuren im Gesicht, ausgerissene Haare oder Narben von Verbrennungen.
Zudem gibt es Partner, die ihre Frauen bewusst an Körperstellen misshandeln, die für außenstehende Personen nicht sichtbar sind oder von den Opfern durch entsprechende Kleidung (Rollkragenpullover, Langarmshirt etc.) oder ein Überschminken mit Make-up verdeckt werden. Darunter fallen Schläge auf den Hinterkopf oder Rücken, Verbrennungen an den Oberarmen, Bisse in Oberschenkel etc.
Aus Scham verschweigen viele Frauen die wahren Ursachen ihrer Verletzungen oder nennen bei gewaltbedingten Symptomen angebliche „Haushaltsunfälle“ als Ursache.
Körperliche Verletzungen sind ziemlich eindeutig zu identifizieren und erleichtern dadurch das Fragen nach den Verletzungsgründen. Weitaus schwieriger gestaltet sich das Erkennen von häuslicher Gewalt bei Beschwerden.
Psychische und psychosomatische Beschwerdebilder
Nach Misshandlungen vergeht oft lange Zeit, ehe die Opfer in medizinischen Einrichtungen nach Hilfe suchen. Liegen somatische Beschwerden, psychosomatische und psychische Erkrankungen vor, ist es schwierig, die häusliche Gewalt als mögliche Ursache oder als Einflussfaktor zu erkennen. Bei folgenden psychischen und psychosomatischen Symptomen könnten Gewalterfahrungen eine Rolle spielen:
- Angst, Panikattacken, Verfolgungsängste
- Übermäßige Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit
- Unruhezustände, Nervosität
- Schlaflosigkeit, Albträume
- Verzweiflung, Resignation, Niedergeschlagenheit
- Ohnmachtsgefühle, Machtlosigkeit
- Erinnerungslücken
Daneben können verzögert oder längerfristig weitere psychische und psychosomatische Symptome auftreten, die mit dem Verlust von Selbstachtung und Selbstwertgefühl einhergehen:
- Posttraumatische Belastungsstörungen (PTDS)
- Substanzmissbrauch
- Depression
- Suizidgedanken, Suizidversuche
- Selbstverletzendes Verhalten
Misshandlungen führen häufig zu stressbedingten Beschwerdebildern und chronischen Erkrankungen. Deshalb sollte Gewalt als mögliche Ursache von Verletzungen, Stresssymptomen oder als Einflussfaktor darauf immer mitgedacht werden.
Anzeichen im Bereich Gynäkologie/Geburtshilfe
Die Wahrscheinlichkeit eines gynäkologischen Leidens ist bei misshandelten Frauen um ein Vielfaches höher als bei Frauen ohne Gewalterfahrung. Besonders belastet sind Frauen, die physischer und sexualisierter Gewalt durch den Partner ausgesetzt sind.
Für Frauen, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erlitten haben, besteht die Gefahr, dass sie im Erwachsenenalter erneut Opfer von Gewalttaten werden.
Daher sind Gynäkolog/innen, Hebammen und Pflegekräfte sowohl mit akuten Vergewaltigungen als auch mit den gesundheitlichen Auswirkungen von sexualisierter Gewalt, der ihre Patientinnen in der Vergangenheit ausgesetzt waren, konfrontiert.
Bei folgenden Beschwerdebildern könnte Gewalterfahrung eine Rolle spielen:
- Schmerzen bei Vaginaluntersuchung
- Verletzungen von Brust-, Unterleib, Genitalbereich
- Diffuse Unterleibs- und Bauchbeschwerden ohne organische Ursache
- Vaginale, anale Entzündungen
- Starke Blutungen, Zyklusstörungen
- Sexuelle Probleme, Infertilität
In der Schwangerschaft besteht statistisch erhöht die Gefahr, dass ein potenziell gewalttätiger Mann seine Frau schlägt, und infolgedessen eines erhöhten Risikos einer Fehl- oder Frühgeburt (Schmuel et al. 1998).
Belegt sind zudem durch Gewalt verursachte Schwangerschaftskomplikationen, Verletzungen beim Fötus und ein niedriges Geburtsgewicht von Neugeborenen.
Deshalb ist bei folgenden Merkmalen immer ein möglicher Gewaltzusammenhang in Erwägung zu ziehen:
- Schwangerschaftskomplikationen
- Früh-, Fehl- oder Totgeburten
- Blutungen im ersten und zweiten Trimester der Schwangerschaft
- Geringes Geburtsgewicht des Säuglings
- Alkohol- und Tabakkonsum während der Schwangerschaft
- Verspätete oder gar keine Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchung
Aspekte des Gesundheitsverhaltens
Frauen in Gewaltbeziehungen weisen häufiger Verletzungen, Beschwerden und Erkrankungen auf. Folgerichtig nehmen sie öfters medizinische Leistungen in Anspruch. Andererseits ist in dieser Gruppe die Compliance in Bezug auf die Einnahme von Medikamenten oder das Befolgen von therapeutischen Anweisungen, Behandlungs- und Therapieplänen eher gering.
Literatur
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[1] BMWFJ (Hg.): Gesundheitliche Versorgung gewaltbetroffener Frauen. Ein Leitfaden für Krankenhaus und medizinische Praxis Wien, 2010PDF, 2 MB
Anleitungen zur Gesprächsführung, Beratung, Intervention sowie Formulare zur Befunderhebung, Dokumentation und Spurensicherung
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[2] Formular: Untersuchungsbogen für Opfer nach SexualdeliktPDF, 1 MB
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[3] Formular: Dokumentationsbogen für die Untersuchung bei Gewalt gegen FrauenPDF, 2 MB
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[4] Formular: Untersuchungsbogen für die erweiterte VerletzungsdokumentationPDF, 1 MB