THEMA: Gewalt in Institutionen
Expertenstimme

DSA Arno Dalpra
DSA Arno Dalpra
Verantwortung und Schuld verjähren nicht
In den letzten Jahren ist das Problembewusstsein in Bezug auf körperliche sowie sexualisierte Gewaltdelikte in pädagogischen Arbeitsfeldern gewachsen. Seit Ende der 1990iger Jahre wird zunehmend auch die von Frauen verübte Gewalt in Institutionen wahrgenommen. In der Diskussion über Gewaltfälle in verschiedenen Einrichtungen wurde meist versucht, die Wiedergutmachung der Taten von den Täter/innen zu trennen. Bei den Recherchen zu diesem Artikel ist aufgefallen, dass die wenigsten Organisationen eine klare Haltung gegenüber Tat und Täter/in einnehmen. Vielmehr ist zu beobachten, dass durch die Tabuisierung des Themas von Seiten der Institutionen und Berufsorganisationen die Handlungsweise von Täter/innen gefördert wird.
Schweigen hilft den Täter/innen, …
… es ist ihre beste Waffe. Sowohl die internationale Täter/innenforschung als auch Erfahrungsberichte aus der Praxis machen deutlich, dass körperliche und sexualisierte Gewalt in Institutionen kein „zufälliges Geschehen“ ist, sondern das Ergebnis eines strategischen Vorgehens: Zielgerichtet versuchen Täter/innen mit potenziellen Opfern in Kontakt zu kommen. In diesem Sinne ist die Entscheidung für eine ehrenamtliche, haupt- oder nebenberufliche Tätigkeit in pädagogischen, medizinischen, seelsorgerischen oder therapeutischen Berufen eine „klassische Täterstrategie“. Sie suchen Arbeitsplätze in Einrichtungen, in denen die Wahrscheinlichkeit relativ gering ist, dass ihre Missbrauchshandlungen bekannt werden. Dies ist zum Beispiel bei Organisationen der Fall, die sich stark von anderen vergleichbaren Einrichtungen abgrenzen und sich in besonderem Maße um ihren „guten Ruf sorgen“. Viele Täter/innen (vor allem bei Übergriffen gegenüber Kindern/Jugendlichen) achten bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes auf die Leitungsstruktur und den Arbeitsstil der jeweiligen Einrichtung.
Institutionen mit transparenten Leitungsstrukturen und klaren Arbeitsanforderungen bieten Mädchen und Jungen, Müttern und Vätern aber auch Kolleginnen und Kollegen, ein relativ großes Maß an fachlicher und persönlicher Sicherheit. Diesen Institutionen fällt es weniger schwer, sich einer Vermutung von körperlichen oder sexuellen Übergriffen in den eigenen Reihen zu stellen und gegebenenfalls Grenzen zu ziehen als solchen, in denen aufgrund autoritärer Leitungsstrukturen starke persönliche Abhängigkeiten bestehen. Dort werden Entscheidungen weniger aus fachlichen Erwägungen, sondern mehr im Interesse der eigenen Machtsicherung getroffen.
In Einrichtungen mit diffusen Strukturen und einer unzureichenden Trennung zwischen beruflichen und persönlichen Kontakten laufen Täter/innen kaum Gefahr, dass die von ihnen verübten Verbrechen aufgedeckt werden. Nicht selten wechseln sie den Arbeitsplatz, wenn Institutionen ihnen wenig Spielraum für Intrigen, den Aufbau persönlicher Abhängigkeiten und sexuelle Übergriffe bieten.
Die Dinge beim Namen nennen
Solange Täter/innen keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten haben, werden sie kaum von ihrem Tun lassen. Die Entscheidungsträger/innen sind verpflichtet, Stellung zu nehmen und eindeutige Vorgangsweisen zu erarbeiten. Die heute praktizierte Informationspolitik mit der ausschließlichen Betonung der Persönlichkeitsrechte der Täter/innen ist zu überdenken. Die Dynamik, die sich in einer Organisation bei Bekanntwerden von z.B. sexuellen Übergriffen abspielt, kann mit der Dynamik in einer „Inzestfamilie“ verglichen werden. Es wird versucht, alles zu bestreiten zu bagatellisieren und zu beschönigen. Um die Opfer zu schützen, müssen die Prozesse transparent sein und die Täter/innen genannt werden. Es gibt wenig Literatur darüber, wie sich die Entscheidungsträger im Zusammenhang mit PSM (Professional Sexual Misconduct /professioneller sexueller Missbrauch) verhalten sollen. Weder blinder Aktionismus führt zu strategisch überzeugenden Lösungen, noch hilft der Grundsatz der Unschuldsvermutung, der oft in einem Nichtreagieren mündet, das von den Betroffenen dahingehend ausgelegt wird, dass die Institution den/die Täter/in schützt.
Effektives Vorgehen einer Institution
Für eine umfassende effektive Vorgangsweise könnten Organisationen folgende vier Schritte bedenken:
- Anlaufstelle einrichten
- Berufsrichtlinie verfassen
- Vorgehensweise festlegen und Maßnahmenkatalog erstellen (somit eine Haltung gegenüber Täter/innen festlegen)
- aktive Prophylaxe betreiben
Weiters gehört dazu:
- Die Bereitschaft einer Organisation, Opfer zur Meldung zu ermutigen und den geschilderten Sachverhalt wertschätzend zur Kenntnis zu nehmen.
- Der möglichst unkomplizierte Zugang für Betroffene zu einer Anlaufstelle.
Institutionen sind auf die Aussagen von Betroffenen angewiesen, wenn sie ihre beruflichen Standards durchsetzen und aufrecht erhalten wollen. Nur durch konsequentes Melden sind diejenigen identifizierbar, die Gewaltschutzregeln nicht befolgen.
Die Bezeichnung „Berufsrichtlinie“ sollte einer Formulierung wie „ethischer Kontext“ oder ähnlichem vorgezogen werden. Mit „Richtlinie“ wird für alle Verbindliches ausgedrückt.
Berufsrichtlinien
- Die Berufsrichtlinien müssen auf die spezifischen Bedingungen der jeweiligen Organisation zugeschnitten werden. Die Ausarbeitung soll unter Einbezug möglichst aller involvierten Mitarbeiter/innen erfolgen. Allfällige Opfer sollen einen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung haben oder zumindest mittels Traumahelfer/innen oder Beratungsstellen ihre Anliegen einbringen können.
- Die Berufsrichtlinien sollen entwicklungsfähig konzipiert werden und flexibel sein, damit neue Erkenntnisse integriert werden können. Das Prozedere zur Anpassung sollte implizit formuliert und Bestandteil der Richtlinie sein.
- Durch Einbeziehung aller Involvierten wird ein Arbeitsinstrument geschaffen, das die Berücksichtigung aller relevanten Aspekte garantiert. Die gemeinsame Erarbeitung trägt wesentlich dazu bei, dass die Adressat/innen die Richtlinien auch annehmen und vertreten. Beim Ausformulieren ist auf eine inhaltlich widerspruchsfreie und kohärente Umschreibung zu achten. Die avisierten Lösungen müssen praktikabel und umsetzbar sein.
- Vorgesetzte und Entscheidungsträger/innen haben eine Vorbildfunktion. Das Ethos des fachlich korrekten Handelns kann nicht als bloßes Wissen angeeignet werden, sondern wird durch das praktische Vorgehen und die Haltung der Mitarbeiter/innen mitbestimmt. Die Formulierungen und Zielsetzungen sollen sich an der beruflichen Alltagsrealität orientieren und nicht unerreichbare Wünsche beinhalten.
- Die schriftliche Form bedingt ein verbindliches Ausformulieren und Festlegen für alle Mitglieder einer Institution, die der Institution wiederum per Unterschrift, ihre individuelle Zustimmung bestätigen.
- Der Text soll in möglichst einfacher und klar verständlicher Sprache abgefasst sein. Die Grundsätze sollen für alle als akzeptable Bedingungen gelten.
Zusammenfassung
Es gibt vier Arten von körperlichen/sexualisierten Übergriffen innerhalb einer Organisation:
- Übergriffe von/an Patient/innen, Bewohner/innen, Klient/innen
- Übergriffe durch Mitarbeiter/innen an Patient/innen, Schüler/innen, Klient/innen
- Übergriffe von/an Mitarbeiter/innen
- Übergriffe durch Vorgesetzte und Verantwortliche
Dabei ist zu bedenken: Die Abklärung von Vorwürfen gehört in professionelle Hände. Falsche Anschuldigungen finden sich bei rund drei Prozent aller Anzeigen. Die Selbstregulation bei PSM funktioniert weltweit nicht. Die „Schwarzer-Peter-Theorie“ beruht auf einem verantwortungslosen, kurzfristigen Denken. PSM-Prophylaxe beruht auf dem Drei-Säulen-Modell „Prävention-Konsequenzen-Hilfestellung“.
Prävention heißt: eine Politik der offenen Türen, Ausbildung und kontinuierliche Weiterbildung, Information für Mitarbeiter/innen und Klient/innen, Berufsrichtlinien.
Konsequenzen heißt: gesetzliche Maßnahmen, administrative Maßnahmen, transparente Information, Qualitätssicherung, obligate Rehabilitation.
Hilfestellung für Opfer und ihre Angehörigen, Täter/innen, Fachleute und Mitarbeiter/innen.