THEMA: Die Rolle der Mütter bei sexueller Gewalt an Kindern
Expertinnenstimme

Mag.a Barbara Koch
Mag.a DSA Barbara KOCH
Der Ort der Mutter
Die Frage nach der Rolle der Mütter im Beratungskontext der Kinderschutzarbeit hat sowohl in unserem Team, als auch bei anderen Kolleg/innen immer die gleiche ambivalente, emotionale Reaktion ausgelöst: „Spannendes Thema, aber auch schwierig!“
Und beim Versuch, meinen Beitrag auszuformulieren ging es mir ähnlich: Ich dachte mir anfangs: Nichts leichter als das! Zum Thema „Mütter in der Beratung“ fällt mir so viel ein, dass ich schon aus dem Stehgreif eine Stunde reden könnte! Aber dann merkte ich, wie schwer es ist, Gedanken über die Arbeit mit Müttern auszuformulieren und dann auch wirklich stehen zu lassen. Zweifel schlichen sich ein, wie man denn über Mütter reden kann und überhaupt darf, deren Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sind.
Und genau an dieser Stelle liegt die Schwierigkeit: Es wird so schnell ideologisch und auch so schnell persönlich, wenn es um Mütter geht.
Diese Beziehung ist vermutlich die komplexeste unseres Lebens, und sie ist gerade für Frauen noch ein wenig komplizierter als für Männer: Kleine Jungs müssen sich irgendwann von ihrer Mama abgrenzen, sich distanzieren, damit sie wichtige Entwicklungsschritte nehmen können, das ist sicher nicht einfach.
Mädchen aber haben es doppelt schwer. Zuerst distanzieren, dann aber identifizieren und sich mit der eigenen inneren Mutter anfreunden um später selber Mutter werden zu können. Eine schwierige Gradwanderung, eigentlich ein Spagat zwischen: Sowohl als auch, Nähe und Distanz, Individuation, Separation und Verbundenheit. Ich betone diesen Umstand, weil der Großteil aller Mitarbeiter/innen im Kinderschutz Frauen, und viele auch selber Mütter sind. Insofern begeben wir uns in ein sehr komplexes und emotional aufgeladenes Arbeitsfeld.
Sozialhistorisch betrachtet hat die Rolle der Frau in der Industriegesellschaft des 19/20.Jhdts - nämlich idealisiert und parallel jeder erkennbaren Macht, einschließlich der sexuellen beraubt zu sein - die Grundannahmen der Psychotherapie bis heute geprägt. Allen voran fand gerade in der psychoanalytischen Theoriebildung ein regelrechtes “Motherbashing” statt.
Christa Rohde-Dachser geht soweit, dass sie den Ort, der in unserer kollektiven Phantasie als auch im realen Leben der Mutter zugeschrieben wird, als Ort der Schuld bezeichnet und begründet dies folgendermaßen:
Der Ort, der als Wirkungsfeld “der Mutter” gilt ist die exklusive Dyade, während dem Vater in Bezug auf das Kind nur eine Randposition zugeschrieben wird. Diese Sichtweise hat letztlich auch einen ganz realen Hintergrund, Väter verschwinden ja tatsächlich - wenn man bedenkt, dass die Zahl der Alleinerzieherinnen steigt - aus dem Leben der Kinder, und an dieser Stelle könnte man noch fragen, ob die Väter früher überhaupt anwesender waren … Übrig und zuständig ist und bleibt in den meisten Gesellschaftsschichten die Mutter. Von der realen Ebene abgesehen wird diese exklusive Rolle aber auch in der Entwicklungspsychologie für die Mutter reserviert: Wie beispielsweise bei Winnicott, der die Mutter als Mittlerin der Beziehung zwischen Vater und Kind versteht. Das heißt, der Vater kommt - wenn überhaupt - nur über die Mutter ins Gesichtsfeld des Kindes. Mit dieser Sichtweise werden alle Einflüsse von außen ignoriert und die Mutter bildet so zwar unweigerlich die Quelle alles Guten, aber, und das ist das Verhängnisvolle, eben auch alles Schlechten!
Die Mutter in einer vaterlosen Gesellschaft ist nicht nur die einzige Identifikationsfigur, sondern auch die einzige Projektionsfigur. (vgl. Rohde-Dachser, 1991, S.208ff)
„Im Bild der bösen Mutter sammelt sich inzwischen alles, was wir an negativen Eigenschaften aufzubieten haben: Es kommt in den Therapien auf, in Lebensberichten, in theoretischen Abhandlungen, in den Massenmedien: Sie ist besitzergreifend, uneinfühlsam, kindersüchtig, klammernd, krallend, fressend, dominant, sich selbst mit dem Kind stopfend, lebensneidisch, wütend, aggressiv, überfürsorglich, symbiotisch. Sie ist die Neidmutter, die Mordmutter, der Inbegriff der Lebensbehinderung und der Missgunst, die Klebemutter, die dogmatische Herrin ihres Weltbildes, das sie wie eine Käseglocke noch weit bis ins erwachsene Leben hinein über ihre Abhängigen zu stülpen versucht.“ (Moeller in: Rohde-Dachser, 1991, S.205)
Hier ist wichtig zu betonen: Was dem Weiblichen/Mütterlichen aufgebürdet wird, ist das, wovon sich der Mann/Vater im gleichen Atemzug entlastet. Frauen als Opfer der Geschichte, Mütter als Projektionsfläche, immer verantwortlich, keine Rechte.
Dass Sexuelle Gewalt aus dem verschwiegenen Tabubereich in den Blick der Öffentlichkeit gerückt werden konnte ist im Wesentlichen ein Verdienst der Frauenbewegung und der sich verändernden Rolle von Frauen. Aus feministischer Sicht kann ich Mütter als “Mittäterinnen” schwer akzeptieren, weil mir gleich einfällt, dass diese Mütter alle selber Opfer sind, und ich nicht bereit bin, die Verantwortung für “männliche und strukturelle” Gewalt auch noch den Müttern umzuhängen.
Aus guten Gründen gibt es daher eine Gegenposition zum “traditionellen Motherbashing” in der es nahezu nicht erlaubt bis tabu ist, auch nur an Mitverantwortung der Mütter zu denken, wenn es um sexuelle Gewalt an Kindern geht. Neben den bereits erwähnten Gründen kann man diese aus meiner Sicht gegenteilige Extremposition auch folgendermaßen begründen:
„Sobald man sich nicht nur gegen den Gewalt ausübenden Teil stellt wird schnell das traditionelle Frauenbild aktiviert, in dem Frauen überwiegend die Verantwortung für die Beziehung zugeschrieben wird. Frauen werden in unserer Gesellschaft häufig so erzogen, dass sie sich für die Zufriedenheit und die „Potenz“ ihrer Männer verantwortlich fühlen müssen (aber auch dürfen). Mehr oder weniger unbewusst gibt es die Vorstellung, dass die Frau auf jeden Fall schuld ist, wenn der Mann unzufrieden und böse ist.“ (Bauriedl, 1996, S. 37)
Daher ist es in der Beratung oft schwer, Frauen in ihre Verantwortung zu nehmen und komplexe Zusammenhänge nicht einseitig zu behandeln. Eine Blüte dieser Vorsicht habe ich in einer Broschüre zum Thema sexuelle Gewalt an Kindern gefunden:
“Die Rolle der Mütter von Opfern: Noch immer richtet sich in der Diskussion über sexuellen Missbrauch an Kindern die Wut häufig gegen die Mütter. Sicher gibt es auch Mütter, die die sexuelle Ausbeutung ihrer Kinder mitbekommen und sie aus welchen Gründen auch immer stillschweigend dulden. Der Großteil hat davon aber keine Ahnung.”
Bei mir bleibt aber ein Unbehagen, dass ich in meiner täglichen Arbeit immer wieder spüre, nämlich eine Befürchtung oder eine Ahnung (?) die ein Fortbildungsleiter einmal klar und deutlich und ohne Zweifel formulierte: “Missbrauch an Kindern in der Familie? Davon wissen beide Eltern!”
Das würde ich so zwar auch nicht in eine Broschüre schreiben, aber in der Praxis erleben wir doch alle, dass viele Mütter wegschauen, nicht wissen wollen oder können, verleugnen, verdrängen, im schlimmsten Fall ihre Kinder sogar ausliefern und damit nicht nur viele Fragen offen lassen, sondern ihre Kinder massiv schädigen:
„Es gibt ein System in der Missbrauchsfamilie, in der jedes Familienmitglied eine spezifische Rolle spielt und der Verrat durch die Mutter, die wissend oder wissend und nicht wissend zugleich die Tochter, das Opfer, nicht schützt, kann zerstörerischer sein als der Missbrauch selbst. Insbesondere bei traumatischen Einwirkungen in der Familie kann man das traumatische Ereignis von der Beziehung zwischen Täter und Opfer, aber auch von diesen zu allen anderen Familienmitgliedern überhaupt nicht trennen“. (Hirsch, 2004, S.35)
Die Vorstellung, dass alle Mütter immer nur das Beste für ihr Kind wollen (und wenn nicht, dann sind sie aufgrund ihrer eigenen Geschichte nicht dazu in der Lage) scheint mir manchmal fast wie ein Mythos: Kennt nicht jeder das Gefühl in der Kinderschutzarbeit, dass es Mütter gibt, die wirklich nicht das beste für ihr Kind wollen, sondern neidisch sind, ihnen nichts gönnen, ihre Kinder als Selbstobjekte missbrauchen, während sie nicht müde werden bei jedem Termin zu betonen, dass es ihnen ja nur um das Wohl ihres Kindes geht?
Und sofort könnte man entgegenhalten, welchem Ausmaß an struktureller Gewalt Frauen ausgesetzt sind, dass die familiären Verhältnisse eben auch Gewaltverhältnisse sind, in denen es klare und reduzierte Frauenbilder gibt, die es Müttern nicht leicht machen, sich gegen ihre Männer zu stellen und sich und ihre Töchter gut zu behandeln. Allerdings: Die Betonung, dass diese Frauen selber Opfer sind macht ihre Haltung für die Kinder nicht weniger schädlich.
In diesem Spannungsfeld bewegt sich unsere Arbeit und gerade im Gewaltbereich motivieren Rettungsphantasien häufig das Handeln - vielleicht ohne dass wir es bemerken. Diese Omnipotenzphantasien dienen der Abwehr von Gefühlen der Hilflosigkeit und Ohnmacht, die gerade im Zusammenhang mit Gewalt oft bei den Helfer/innen auftreten und als äußerst quälend erlebt werden. Sie stehen natürlich auch in Zusammenhang mit der eigenen inneren Identifikation mit dem schutzlosen Kind (das wir alle ja einmal waren).
Die darin implizierte unbewusste Feindseligkeit den Eltern gegenüber erschwert im Gegenzug die Möglichkeit, mit den Eltern/Müttern im Sinne des Kindes zusammen zu arbeiten. Aber ohne ein Bündnis mit den Eltern, ohne eine verständnisvolle und nicht verurteilende Position gelingt keine Kinderschutzarbeit.
Aber wer ist schon vor diesen Phantasien und dieser manchmal feindseligen Haltung gefeit? Und ich meine nicht in der Theorie, sondern in der Praxis, und hier bin ich an einem sehr entscheidenden Punkt:
Als Beraterin komme ich sofort in Berührung mit meiner eigenen Mutter-Geschichte. Doppelt, wenn ich selber Mutter bin.
Um sich in die Mutter einfühlen zu können, muss sich die Therapeutin/ Beraterin ihrer eigenen unbewussten primitiven Wünsche und Ängste sowie ihrer defensiven und reaktiven Wut auf die frühe und für das Kind sehr mächtige Mutter – die schließlich das allererste Identifikationsobjekt darstellt - bewusst werden. (vgl. Novick und Novick, 2009)
Das Wiederaufleben von Sehnsüchten, Erfahrungen und eigenen Konflikten sowie intensive Gegenübertragungsgefühle sind die Folge dieser eigenen Wünsche und Ängste dem ersten Objekt gegenüber. Unserer eigenen Mutter gegenüber. Um diese einzugrenzen kommt es häufig zu defensiver Zurückhaltung und mechanischer Anwendung der gelernten „Technik“ oder zur Versuchung, die bessere Mutter für das arme Kind (in uns) zu sein.
Die Mutter stellt immer das erste Objekt, das erste innere Bild eines Gegenübers dar, und warum der Zorn auf die Mutter in der Bearbeitung von traumatischen Erfahrungen eigentlich regelhaft auftaucht, egal ob diese jetzt mitverantwortlich ist oder nicht, hängt wohl mit folgendem Umstand zusammen:
Eine bekannte Theorie zur Frage, was denn an Gewalterfahrungen letztlich traumatisch wäre besagt, dass es immer auch um die Abwesenheit eines Dritten geht, der dem Opfer die Qualität des Traumas und die Realität seiner Wahrnehmung bestätigt.
Das heißt, beim Trauma schaut die innere Mutter stets zu, sie lässt den Angriff zu, oder sie versäumt es zumindest, ihn zu verhindern. (vgl. Hirsch, 2004, S.35ff)
Insofern ist es von immenser Bedeutung, dass wir uns immer wieder darauf besinnen, dass wir unsere eigene Person, unsere eigene Geschichte und unsere eigenen inneren Mutterbilder nicht aus der Beratung und Therapie heraushalten können, sondern damit in Kontakt bleiben müssen.
Um möglichst professionelle und fruchtbare Arbeit zu leisten bedarf es auch den Mut, die Mütter (in uns) zu betrachten.
Mag.a DSA Barbara KOCH: Sozialarbeiterin, Pädagogin, Psychotherapeutin - Kinderschutz Innsbruck
Literatur
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[1] Elternarbeit in der Kinderpsychoanalyse. Frankfurt a. Main, Brandes und Apsel Verlag, 2009
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[2] Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie. Stuttgart, Schattauer Verlag, 2004
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[3] Leben in Beziehungen; Von der Notwendigkeit Grenzen zu setzen. Freiburg, Herder Verlag, 1996
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[4] Expedition in den dunklen Kontinent; Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin-Heidelberg, Springer Verlag, 1991