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THEMA: Die Rolle der Mütter bei sexueller Gewalt an Kindern

Expertinnenstimme

Renate Ascher

Renate Ascher

Renate Ascher

„Die Rolle der Mutter im Kinderschutz“

Die Fachliteratur über die Rolle von Müttern im Kinderschutz ist umfassend. Schwerwiegende, fast anklagende und sich teilweise auch widersprechende Sätze wie „Mütter sind verantwortlich“, „eigentlich sind sie an allem Schuld“, „ohne die Mutter ist ein Leben nicht denkbar“ überfrachteten meine gesamten Überlegungen. Ich gewann zunehmend den Eindruck, dass ich – selber Tochter und Mutter - in Bezug auf dieses Thema völlig verstrickt bin, somit befangen und eigentlich zu keiner Aussage befähigt.

Um dennoch professionell mit Müttern arbeiten zu können, versuche ich Kategorien zu finden, die natürlich sehr verallgemeinernd sind, die mir aber etwas Halt geben und somit für mich persönlich auch hilfreich sind:

Überraschend oft – und ungerechterweise in diesem Aufsatz viel zu wenig hervorgehoben - gibt es Mütter, die die Stärke mitbringen, die Krise, in der das Kind aktuell steckt, und die die Familie in die Beratungsstelle geführt hat, gut und kompetent abzufedern. Hier gilt es, anzuerkennen und zu stützen soweit erforderlich und ansonsten einer baldigen Besserung oder „Heilung“ entgegenzusehen.

Leider vergesse ich manchmal, wie konstruktiv die Mütter ihre Macht, die sie Kraft ihres Amtes nun einmal haben, gebrauchen können und wie heilsam eine angemessen reagierende Mutter für ihr verletztes Kind sein kann.

Dem gegenüber stehen Familien, in denen die Mütter auch sehr mächtig sind, die ihre Macht jedoch nicht dazu verwenden um ihre Kinder zu schützen. Meine kühne These dazu ist, dass jegliche Intervention durch eine Beratungsstelle zum Scheitern verurteilt ist. Für mich gilt es, die Stabilität eines solchen Systems zu erkennen und zu akzeptieren und zu lernen mit meiner eigenen Hilflosigkeit umzugehen. Solche Familien und solche Mütter brauchen eine anders strukturierte Art der Hilfestellung.

Die große Bedeutung einer Mutter erkennt man am leichtesten dann, wenn sie abwesend ist. Verstorbene Mütter, Mütter die keinen Kontakt zu ihren Kindern wollen oder haben dürfen, sind unersetzbar. Alle erdenkliche Energie geht dahin, ihre Abwesenheit zu betrauern und kreative Hilfskonstrukte zu finden, die jedoch dem, was eine Mutter ausmacht, in keiner Weise gerecht werden kann.

Ich habe also drei äußere Eckpunkte definiert: die kompetenten Mütter, die  übermächtigen Mütter und die abwesenden Mütter.

Dazwischen gibt es das weite Feld der ambivalenten Mütter, der Mütter mit Schuldgefühlen, der Mütter die ihre Rolle nicht ernst nehmen, der überforderten Mütter, für die jedes Gespräch eine weitere unlösbare Aufgabe bedeutetet, der hilfslosen Mütter die ihr Schicksal in die Hände der Beraterin legen etc.

Für sie alle ist ein und dieselbe Strategie hilfreich. Ich muss mich bildlich gesprochen auf den Weg machen und sie so gut wie möglich dort abholen, wo sie gerade sind – auch wenn für mich der Weg dorthin wo die sind, sehr beschwerlich ist. Und trotz meiner kaum aushaltbaren Hilflosigkeit, ist es meine Aufgabe, diese Mütter so weit zu begleiten, soweit sie es zulassen. Und das ist leider manchmal besorgniserregend wenig weit. Und nach dieser oft recht kurzen Reise muss ich lernen, auf meinem Unmut und meiner Ratlosigkeit sitzen zu bleiben.

Was bleibt, ist die Hoffnung, dass es mir gelingt, zumindest einen Keim einzunisten, der bei guten Bedingungen aufgehen kann.

Diese Hoffnung ist auch begründet – ich möchte dazu ein Beispiel nennen:

Die Mutter eines 16jährigen Mädchens kam zum Kinderschutz. Dem Mädchen war es vor Kurzem gelungen, einem Übergriff durch einen Fremdtäter zu entkommen. Im Zuge des Gesprächs erzählte mir die Mutter, dass sie vor sieben Jahren schon beim Kinderschutz gewesen sei, damals auf Anraten ihres Kinderarztes. Der Grund war, dass die Tochter Schlafstörungen hatte. Beim Kinderschutz sei jedoch nichts herausgekommen.

Im Laufe unseres Gesprächs sagte mir die Frau, dass sie sich derzeit nicht nur um ihre Tochter Sorgen mache, sondern dass sie auch massive Eheprobleme habe. In weiterer Folge erzählte sie mir, dass ihr Mann Konflikte nicht aushalte und erst dann konnte sie erzählen, dass ihre Tochter bereits mit fünf Jahren von einem zwölfjährigen Cousin sexuell belästig worden sei. Dies sei bisher immer unter den Teppich gekehrt worden, da ihr Mann keine Streitigkeiten innerhalb der Familie wolle.

Ich ziehe aus dieser Begebenheit den Schluss, dass vor Jahren, als die Frau zum ersten Mal bei uns war, schon dieser besagte Keim gelegt worden ist, der diese Mutter dazu veranlasste, jetzt wieder zu kommen, ein lang gehütetes Familiengeheimnis preis zu geben und ein Hilfsangebot zu ermöglichen.

Für mich heißt das für die Arbeit mit Müttern im Kinderschutz, dass es trotz all der Unklarheiten und Unwissenheit in meiner Rolle als professionelle Helferin den Müttern gegenüber Sinn macht, ein gleich bleibendes Unterstützungsangebot anzubieten, das jederzeit oder eben erst in sieben Jahren genutzt werden kann.

Renate Ascher, Psychotherapeutin, Kinderschutz Wörgl

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