THEMA: Gewalt von Kindern an Eltern
"Parent battering" - Gewalt von Kindern an Eltern
Obwohl in den Medien Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen gegenüber Erwachsenen sehr emotional wahrgenommen und berichtet werden, ist Gewalt von Kindern - insbesondere gegen ihre Eltern - im fachlichen Diskurs kaum Gegenstand der Auseinandersetzung.
"Vatermord" ist in der Mythologie (Ödipus) und in der Literatur (klassische Königsdramen bis zur neuzeitlichen Literatur) wesentlich stärker präsent.
Maria Steck/Brigitte Cizek referieren im Gewaltbericht 2001 die wenigen Forschungsarbeiten zum Thema. Daraus lassen sich folgende Aussagen zu Formen und soziodemographischen Faktoren zusammenfassen (Referenzen finden Sie im Originalbeitrag):
Gewaltformen
Eltern erleben physische Gewalt in Form von „an-den-Haaren-Ziehen“, „Beißen“, „Stoßen“, „Treten“ bis hin zu „festen Schlägen“.
Psychische Gewalt von Kindern gegen Eltern wird in Form von Ärgern, Quälen, Beschimpfen, Drohen, Erpressen, Stehlen, Verfassen von Drohbriefen sowie Telefon- oder TV-Terror ausgeübt.
Zwei Drittel der in den Studien von Eltern berichteten Gewalthandlungen werden von Vorschulkindern in leichten, nicht bedrohlichen Formen ausgeübt.
In zirka einem Drittel der vorgefundenen Fälle kindlicher Gewalt handelt es sich – laut Aussage der betroffenen Eltern – um schwere körperliche Gewalt. In seltenen Fällen kommt es zu Tötungsdelikten seitens der Kinder an ihren Eltern.
Geschlechterverteilung
Da die vorliegenden Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind, lässt sich die Annahme, hauptsächlich Jungen wären gegen ihre Eltern gewalttätig, nicht bestätigen.
Widersprüchliche Ergebnisse fanden die Forscher/innen auch in Bezug auf die Geschlechterverteilung bei den Opfern. Je nach Studie sind mehr Väter oder Mütter die Opfer von gewalttätigen Übergriffen ihrer Kinder.
Es fällt jedoch auf, dass Väter häufiger von ihren Söhnen und Mütter häufiger von ihren Töchtern angegriffen werden: 60% aller Angriffe gegen die Väter gehen von Söhnen und 40% von Töchtern aus; bei Müttern verhält es sich genau umgekehrt. Trotzdem gelangen die Angriffe der Söhne gegen ihre Mütter häufiger zur Anzeige.
Bei Mordanschlägen von Kindern gegen ihre Eltern werden Väter häufiger getötet als Mütter.
Ursachen
Lernen am Modell
In der Fachliteratur findet man durchgehend die Theorie des „Lernens am Modell“ als Erklärung für kindliche Gewaltanwendung. Dabei können unterschiedliche Personengruppen als Vorbilder fungieren:
Meist sind die eigenen Eltern das negative Vorbild für die Gewalt von Kindern an Mutter oder Vater. Dabei ist es nicht notwendig, dass Kinder schwer geschlagen werden, um eine erhöhte Gewaltbereitschaft zu bewirken, es reichen bereits gelegentliche körperliche Züchtigungen seitens der Eltern dafür aus. Auch werden Eltern, die zueinander gewalttätig sind, häufiger Opfer von gewalttätigen Übergriffen ihrer Kinder.
Jugendliche, die gegenüber ihren Eltern gewalttätig sind, haben signifikant häufiger Freunde und Bekannte, die ihre Eltern ebenfalls gewaltsam angreifen. Durch den Einfluss einer gewaltbereiten Gleichaltrigengruppe erfährt Gewalt eine positive Konnotation und wird als durchaus taugliches und gerechtfertigtes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen angesehen.
Modellhaft können zudem mediale Gewaltdarstellungen z.B. in Form von Videos, Computerspielen, Fernsehen und Kino für Kinder wirken.
Familiäre Hintergründe
Die von Steck/Cizek referierten Autor/innen stellen fest, dass es in allen sozialen Schichten vorkommt, dass Kinder - meist in ihrer Pubertät - Gewalt gegen ihre Eltern ausüben.
Als mögliche Gründe werden ausgeführt:
- Wenn die Familie abgeschottet von ihrer sozialen Umgebung lebt,
- die Eltern älter sind,
- keine harmonische Beziehung leben und
- wenn v.a. der Vater von der Mutter und/oder dem Kind physisch oder psychisch schwach erlebt wird.
- Wenn der Vater kein adäquater Ansprechpartner für die Mutter ist und sie deshalb beim Kind eine Kompensation dieses Mankos sucht.
- Wenn das Kind von der Mutter überbehütet wird und keine Gelegenheit zur Entwicklung einer selbstständigen Persönlichkeit hat.
- Wenn die Mutter vom Kind emotional abhängig ist und daher nicht wagt, Grenzen irgendwelcher Art gegenüber dem Kind zu setzen, wodurch der Sohn/die Tochter häufig forderndes Verhalten an den Tag legt.
- Wenn das Kind eine geringe Frustrationstoleranz hat und leicht aggressiv wird, kann es im Zuge eines solchen Wutanfalls gewalttätig gegen die Mutter werden.
- Wenn sich das Kind in der Schule nicht durchsetzen kann, gedemütigt wird, kann es sich zu Hause „wie ein kleiner Tyrann aufführen".
- In Multi–Problem–Familien, in denen körperliche Gewalt gegen Kinder und/oder Frau schon seit Generationen zur familiären Subkultur gehört, kann sich die Gewalttätigkeit umdrehen, wenn in der Pubertät die Eltern ihren Söhnen/Töchtern körperlich häufig nicht mehr gewachsen sind.
- Neben den Lernmodellen und den Familientypen werden als weitere Ursachen unter anderem extrem antiautoritärer Erziehungsstil seitens der Eltern und emotionaler Druck auf die Kinder genannt.
- Die zunehmende emotionale Vereinsamung der Kinder durch elterliche Abwesenheit kann ebenfalls zu erhöhter Gewaltbereitschaft seitens der Kinder gegenüber ihren Eltern führen.
- Gewalttätige Jugendliche haben kaum Zuneigung für und Achtung vor ihren Eltern.
Ausmaß
Über Gewalt von Kindern an ihren Eltern weiß man wenig, weil Eltern selten bereit sind, über Gewalterfahrungen durch ihre Kinder zu berichten. Aus Scham, als Eltern versagt zu haben oder Angst, dass ihnen das Kind weggenommen wird, verschweigen oder bagatellisieren betroffene Eltern die erfahrenen Gewaltdelikte.
Einige amerikanische Untersuchungen gehen davon aus, dass zwischen 9 und 14 Prozent der Eltern derartige Erfahrungen machen könnten. Eine Untersuchung der TU Darmstadt spricht davon, dass 16 Prozent aller 14- bis 17-Jährigen verbal, psychisch oder physisch Gewalt gegen ihre Eltern ausüben. Ab 18 sinkt dieser Anteil auf 5,2 Prozent, dafür werden die Gewalttaten schwerer (vgl. Doris Kraus: "Parent Battering": Wenn die Eltern Opfer werden. Die Presse, 17.4.2010)
Bei einer österreichischen Untersuchung (2004) wurden in den Interventionsstellen Wien und Graz 41 Übergriffe gegen Familienmitglieder eruiert und analysiert (Birgit Haller 2005b - siehe Gewaltbericht). Täter waren meist Burschen und ihre Mütter die Opfer. Bei 28 von 36 Vorfällen hatten Burschen (der jüngste von ihnen zwölf Jahre alt, die ältesten 17) ihre Mutter misshandelt oder bedroht, in den acht übrigen Fällen waren der Vater, Geschwister oder die Großmutter Ziel der Aggression. Auch drei der fünf Mädchen griffen ihre Mutter an, die übrigen die Großmutter oder Geschwister.
Die Gewalthandlungen der Mädchen unterschieden sich strukturell nicht von denen der Burschen, und obwohl nur in wenigen der recherchierten Fälle Mädchen gewalttätig waren, erfolgte eine der massivsten Verletzungen durch eine 14-Jährige mit einem Messerstich. In manchen gewaltbetroffenen Familien terrorisierte ein Kind die gesamte Familie.
"Gewaltgeschichte" und Reaktion der Polizei
Die Jugendlichen hatten mehrheitlich bereits seit Längerem Gewalt gegen Familienmitglieder ausgeübt und dadurch Polizeiinterventionen bis hin zu Betretungsverboten veranlasst.
Bei den untersuchten Gewalthandlungen fiel auf, dass die Exekutive regional unterschiedlich vorging. Die Wiener Polizei reagierte auf die Gewalthandlungen überwiegend mit Betretungsverboten, nämlich gegen 19 der 26 Burschen und gegen vier der fünf Mädchen; anschließend wurden die meisten Jugendlichen in ein Krisenzentrum der Jugendwohlfahrt gebracht oder auch nur dorthin (zurück)geschickt, einzelne zogen zu nahen Verwandten.
Dagegen wurde in der Steiermark nur gegen vier der zehn Gewalttäter ein Betretungsverbot verhängt. Einstweilige Verfügungen wurden insgesamt nur selten beantragt: Fünf Mütter, deren Söhne teilweise noch bei ihnen lebten, teilweise nach früheren Gewalttaten bereits ausgezogen waren, entschlossen sich zu diesem Schritt.
Vereinzelt fanden sich in den Akten Hinweise auf eine problematische Lebenssituation und ein daher bereits bestehendes Betreuungsverhältnis durch das Jugendamt: wegen Verwahrlosung oder Vernachlässigung der Kinder und Jugendlichen, wegen psychischer Erkrankungen oder Alkoholabhängigkeit der Eltern. Bei den Gewalttäter/-innen war mehrfach
angemerkt, dass sie sich (teilweise schon seit Jahren) in psychiatrischer Behandlung befanden, drogen- bzw. alkoholabhängig waren, immer wieder mit Selbstmord drohten oder auch Selbstmordversuche unternommen hatten.
Literatur
-
[1] BMSG (Hg.): Gewalt in der Familie - Gewaltbericht 2001 (Gesamtdokument) Wien, 2002PDF, 2 MB
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