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Thema: Berichterstattung über Gewalt

Expertinnenstimme

Beratungsstelle Tara

Beratungsstelle Tara

Aimee de Simoni und Verena Vlach

Die Opfer-Täter-Umkehr in der Medienberichterstattung

Medien bilden Meinungen, spiegeln gesellschaftliche Phänomene wieder und nur zu oft beeinflusst die Berichterstattung unser Denken.

Bei sexueller Gewalt ist häufig zu beobachten, dass in den Medien Tatbestände verschleiert werden und die Berichterstattung in Bezug auf die Täter-Opfer–Konstellation meist nicht sehr objektiv ist. Einerseits werden schwere Gewaltverbrechen gegen die sexuelle Integrität mit Bezeichnungen wie „Familientragödie“, „Inzestfall“ oder „schwierige familiäre Verhältnisse“ verharmlost. Andererseits wird gegen Vergewaltigungsopfer – wie in den berühmten Fällen des letzten Jahres rund um Kachelmann und Strauß-Kahn – Stimmung gegen die Opfer gemacht, in dem sie als Lügnerinnen dargestellt werden.

Damit wird den Tätern geholfen, die Tat zu banalisieren, zu vertuschen und/oder die Verantwortung abzugeben. Es wird aber auch Opfern von sexueller Gewalt der Mut genommen sich jemandem anzuvertrauen, denn sie werden in ihrer Meinung bestärkt, dass ihnen ohnehin niemand glauben wird.

Besonders wenn es um sexuelle Gewalt an Frauen geht, scheint es ein gesellschaftliches Phänomen zu sein, die Schuld der Täter und die Unschuld der Opfer in Frage zu stellen. Plötzlich sind die Aussagen von Vergewaltigungsopfern fragwürdig und/oder es wird zumindest eine Mitschuld am Tathergang diagnostiziert.

Die Berichterstattungen im sogenannten Kachelmann-Prozess und rund um die Anklage vom ehemaligen Präsidenten des Internationalen Währungsfonds, Strauss-Kahn, sind Beispiele dafür, wie Medien die öffentliche Meinung im Bezug auf Opfer und Täter verändern. Ganz unabhängig von der Wahrheit (die wohl nie restlos geklärt werden kann) nutzten Medien (darunter renommierte Blätter) schon während der Prozesse die Gelegenheit, Stimmung gegen die Klägerinnen zu machen. In beiden Fällen wurden plötzlich aus den mutmaßlichen Tätern und ihren Opfern zwei rachsüchtige Lügnerinnen und die beiden Männer zu unschuldigen Opfern.

Berichterstattung im Kachelmann-Prozess

Der Fall Kachelmann wurde im Spiegel online als „Zwist zwischen Jörg Kachelmann und seiner Ex-Freundin“ verharmlost, der in der Öffentlichkeit ausgetragen werde. Kachelmann wurde als „eloquenter, intelligenter Medienmann“ bezeichnet, der allenfalls einmal „ins Rudern gerät“ wenn interviewt. Die Betroffene auf der anderen Seite posiere „wie ein Glamour-Girl, ohne irgendwelche Scheu vor der Öffentlichkeit“. Die Zeitungen beschuldigten einander der Parteilichkeit – und zwar zugunsten der Klägerin(!), die ihr Anliegen „zum Titel hochjazzen“ ließe. Wenn Kachelmann Fehler zugab: "Ich habe Frauen belogen und ihnen Räubergeschichten erzählt... Ich weiß, ich habe mich mies benommen. Ich habe Menschen verarscht.", wurde dem nicht weiter nachgegangen, sondern solche Äußerungen noch zusätzlich als Beweise von Ehrlichkeit dargestellt. Während er lange und ausführlich zu Wort kam (und immer noch kommt -  dieses Jahr soll noch ein Buch von ihm erscheinen), wurde die Seite der Frau hauptsächlich spekulativ erörtert. Über sie wurde gemutmaßt und gehetzt. Sie wurde als Luder und Zicke diffamiert, die es nur auf Geld abgesehen hat oder ähnliches.

Dann folgten noch zahlreiche Verallgemeinerungen, um den Leser/innen den Eindruck zu vermitteln, es gäbe eine schier unendliche Zahl an geld- und machtgeilen Frauen, die nur auf ihre Gelegenheit warten, um Männern etwas anzuhängen. Kachelmanns (selbstverständlich abgedruckter) Kommentar dazu: Nicht jeder stecke in einer idealen Beziehung - "aber Prominente macht das erpressbar" (siehe Links).

Berichterstattung im Fall Strauss-Kahn

Auch im Strauss-Kahn-Fall machten die Medien aus einem Täter ein Opfer und aus dem Opfer eine Täterin. Durch die eindeutigen DNA-Spuren konnte die Tatsache, dass ein oraler Geschlechtsverkehr stattgefunden hatte, nicht geleugnet werden. Doch die Anwälte des Beklagten fanden heraus, dass die Frau vor Jahren bei der Einwanderungsbehörde falsche Angaben gemacht hatte. Diese Vergangenheit reichte aus, um ihre Glaubwürdigkeit im Bezug auf die sexuelle Nötigung in Frage zu stellen. Das Opfer wurde als Lügnerin dargestellt, die die Einwanderungsbehörde betrügt und nun ihre Chance wahrnimmt, um einen reichen Mann auszunehmen. Für die Medien war es plötzlich unvorstellbar, dass ein so reicher und mächtiger Mann eine arme Putzfrau zum Oralsex zwingen sollte.

Die Tatsache, dass sexuelle Gewalt ein Akt der Machtausübung und der Aggression ist, wurde bei beiden Fällen in den Medien nicht diskutiert. In der Süddeutschen Zeitung und im Profil (siehe Links) wurde der Grund für mögliches männliches Fehlverhalten im Bezug auf sexuelle Übergriffe in den männlichen Trieben und Hormonen gesehen. Es wurden evolutionspsychologische Erklärungen herangezogen (für die es keinerlei Beweise gibt) und behauptet, es liege nun einmal in der „Natur“ des Mannes, Gewalt mit Sex zu verbinden.

Mythen und Vorurteile

Dank dieser Medienberichterstattung wurden mehrere Mythen und Vorurteile, die der Täter-Opfer-Umkehr dienen, in den Köpfen zementiert:

  • Nur junge und attraktive Frauen, die sich „aufreizend“ kleiden oder verhalten, sind von sexueller Gewalt betroffen.
  • „echte“ Vergewaltigungsopfer wehren sich kräftig und haben nach der Tat sichtbare Verletzungen.
  • Sexuelle Gewalt wird typischerweise überfallsartig von Fremdtätern begangen.
  • Der Täter konnte seinen „Sexualtrieb“ nicht mehr beherrschen.
  • Vergewaltigung ist eine aggressive Form des Geschlechtsverkehrs, die manche Frauen sogar als luststeigernd und besonders „männlich“ empfinden.

Tatsache ist …

Mit diesen Mythen und Vorurteilen wird Frauen suggeriert, dass sie selbst schuld sind, wenn sie vergewaltigt werden. Tatsache ist jedoch, dass

  • Frauen jeglichen Alters und Aussehens, jeglicher sozialen Herkunft, Nationalität oder Religion von sexueller Gewalt betroffen sind.
  • Opfer von sexueller Gewalt sind oftmals gar nicht in der Lage sich zu wehren, da sie „Starr vor Schreck“ sind. Bei sexuellen Übergriffen handelt es sich in den meisten Fällen um ein traumatisches Ereignis. Es kommt zu einem sogenannten Freeze-zustand, der eine Gegenwehr unmöglich macht.
  • im Ranking der Täterschaft bei sexueller Gewalt an Frauen innerhalb der letzten drei Jahre, an erster Stelle ein allgemein bekannter Mann steht. An zweiter Stelle die männliche unbekannte Person, an dritter Stelle Freund/Bekannter, an vierter Stelle der Ex-Partner und an fünfter Stelle der derzeitige Partner (siehe Literatur).
  • jede dritte Österreicherin zumindest einmal in ihrem Leben sexuelle Gewalt erlebt, davon jede fünfte Frau über sehr schwere sexuelle Gewalterfahrungen verfügt und jede zehnte Frau mehrmalige schwere sexuelle Gewalt mit körperlichen, psychischen und/oder langfristigen psychosozialen Folgen erlebt (siehe Literatur). Diese Zahlen verdeutlichen, dass Vergewaltigung nichts mit einem lustvollen Geschlechtsakt zu tun hat und auch nicht mit einem übersteigerten männlichen Sexualtrieb zu entschuldigen ist.
  • Frauen, die strafrechtliche Tatbestände gegen die sexuelle Integrität anzeigen, sind nicht per se Lügnerinnen. Die Tatsache, dass in Österreich nur jede zehnte Vergewaltigung angezeigt wird und es bei hundert Strafakten wegen Vergewaltigung nur zu dreißig Anklagen (siehe Literatur) kommt, zeigt deutlich wo unsere Gesellschaft steht.

Unvoreingenommene Berichterstattung fördert Aufklärungsrate

Medien sind Meinungsbildend und eine unvoreingenommene – frei von Vermutungen und Spekulationen – Berichterstattung mit Informationscharakter könnte die Mythen und Vorurteile einer Gesellschaft im Bezug auf sexuelle Gewalt an Frauen verändern und somit Frauen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, ihre Schuld und Schamgefühle nehmen und sie ermutigen darüber zu sprechen. Möglicherweise könnte auch die Aufklärungsrate gesteigert werden, wenn Medien sich ihrer Verantwortung bewusst werden und neben jeden Artikel, in dem es um sexuelle Gewalt geht, die Telefonnummern von Opferschutzeinrichtungen und Beratungsstellen abdrucken würden.

Aimee de Simoni, Psychologiestudentin, Mitarbeiterin der Beratungsstelle TARA

Verena Vlach, Dipl. Sozialarbeiterin und Master of Sozialmanagement, Geschäftsführerin der Beratungsstelle TARA

Literatur

  • [1] Österreichisches Institut für Familienforschung an der Universität Wien: Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld. Österreichische Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern Wien, 2011
    PDF, 29 MB
  • [2] Kelly et al.: Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in rape cases in 11 countries. European briefing. 2009