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zusammenLeben ohne Gewalt

THEMA: Kinder als Mitbetroffene häuslicher Gewalt

Expertinnenstimme

Portrait Barabara Schleicher

Dr. Barbara Schleicher

Dr. Barbara Schleicher

Die Mehrzahl der gewaltbetroffenen Frauen hat Kinder, die wiederholt körperliche und seelische Gewalthandlungen gegen ihre Mutter miterleben. In 70 bis 90 Prozent der Fälle, in denen die Mutter durch den Lebenspartner misshandelt wird, sind die Kinder anwesend, erleben die Gewalt direkt oder indirekt mit (Schrul et al. 2004).

Kinder erfahren die Gewalt auf verschiedenen Sinnesebenen. Sie sehen, wie die Mutter geschlagen oder vergewaltigt wird; sie hören wie der Vater schreit, die Mutter wimmert oder verstummt; sie spüren die Wut des Vaters, die eigene Angst, die Angst der Mutter und der Geschwister, die bedrohliche Atmosphäre vor den Gewalttaten (Kavemann 2002).

Existenzielle Angst um die Mutter, das Erleben von Hilflosigkeit in der betreffenden Situation, ein Gefühl der Isolation durch das häufig gegenüber Außenstehenden auferlegte Schweigegebot, aber auch der Loyalitätskonflikt gegenüber den Eltern können sich in unspezifischen Symptomen (Schlafstörungen, Einnässen, Schulschwierigkeiten, Entwicklungsverzögerungen, Essstörungen, Aggressivität und Ängstlichkeiten, selbstverletzendes Verhalten) bis hin zu traumatischen Schädigungen niederschlagen (Kavemann 2002). Bereits bei Vorschulkindern aus Gewaltfamilien lassen sich bleibende negative Auswirkungen auf die Entwicklung feststellen (Wolfe et al. 2003).

Auf die Frage, welche Gewaltformen die Kinder in familiärer Umgebung miterleben müssen, geht eine aktuelle Studie aus Baden-Württemberg ein:

Tabelle 1: Anteil an Kindern in Prozent, die Gewalt gegen Mütter bzw. Väter miterleben (n=150)
 Art der Gewalt
Gegen die Mutter (in %)
Gegen den Vater (in %)
 Anschreien  83  3
 Bedrohen  85  3
 Schubsen, Schütteln, Ohrfeigen  79  -
 Stoßen, Schlagen, Treten  66  3
 Sexuelles Bedrängen, Vergewaltigen  13  -
 Mit Waffe bedrohen  23 -

Quelle: Seith et al. 2007

Von den befragten Kindern waren 92 Prozent bei den Handlungen direkt zugegen, in vier Prozent der Fälle hatten sie die Tat mit angehört. 38 Prozent der befragten Kinder waren bei der polizeilichen Wegweisung zugegen, weitere 43 Prozent flüchteten mit ihren Müttern in ein Frauenhaus (Seith et al. 2007).

Immer sind Kinder direkte oder indirekte Zeugen der Gewalthandlung. Häufig werden Söhne und Töchter gewalttätiger Väter nicht nur selbst misshandelt, sondern auch sexuell missbraucht. Auf die deutsche Studie bezogen, gaben 77 Prozent der Mädchen und Jungen an, sich schützend vor die Mutter gestellt und dabei gewalttätige Übergriffe erfahren zu haben. In 13 Prozent der Fälle waren sie sogar schwer misshandelt worden (Seith et al. 2007). Laut amerikanischen Studien bewegt sich die Überschneidung von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung in einem Ausmaß von 30 bis 60 Prozent (DHHS 2003).

Mütter, die selbst Gewalt ausgesetzt sind, können in den meisten Fällen ihre Kinder nicht adäquat vor den Gewaltfolgen schützen, so dass Kinder den Gewaltsituationen völlig hilflos ausgesetzt sind. 

Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die psychische Entwicklung der Kinder

Kognitive Entwicklung

Erhöhtes Risiko für Sprachentwicklungsstörungen, Lern- und Leistungsstörungen, Entwicklung starrer Vorstellungen über Gut und Böse, Entwicklung eines gestörten Körperschemas (Salzgeber et al. 2001; Kindler 2002)

Emotionale Entwicklung

Tiefes Misstrauen in den eigenen Selbstwert und in die Vertrauenswürdigkeit und Schutzfunktion des Umfeldes, Entwicklung von Bindungsstörungen (Salzgeber et al. 2001). Kinder geben sich meistens selbst die Schuld für den Gewaltausbruch, um den Vater zu schützen und um das Bild der guten Eltern zu wahren. Dabei nimmt der eigene Selbstwert immer weiter ab (Hagemann-White et al. 2002). Erhöhte Aggressivität, Ängste und Bedrohungsgefühle in der Interaktion mit Gleichaltrigen und Erwachsenen (Enzmann et al 2001; Kindler 2002)  

Auffälligkeiten im Verhalten 

Kinder, die massive Gewalt im Elternhaus erleben, zeigen häufig ein auffälliges Verhalten (Salzgeber et al. 2001; Kindler 2002). Dazu gehören pathologisches Lügen oder Schutzbehauptungen etwas nicht getan zu haben, ausgeprägte autodestruktive Tendenzen, Überangepasstheit (z. B. in Form übergroßer Sauberkeit, Ordnungsliebe oder Überfreundlichkeit). Selten werden eigene Wünsche geäußert, im sozialen Verhalten sind Distanz, Beziehungslosigkeit und Bindungsstörungen auffällig (häufig wird distanzlos Körperkontakt zu Fremden aufgenommen, es wird kein echtes Vertrauen in enge Beziehungen erkennbar.) 

Familiäre Gewalt lässt sich oftmals über Generationen zurückverfolgen. Erwachsene, die in ihrer Herkunftsfamilie Gewalt erlebt haben, sind eher gefährdet, selbst Gewalt auszuüben bzw. zu erdulden. Studien weisen darauf hin, dass etwa 30 Prozent ehemals misshandelter Eltern die erlittene Gewalt an ihre Kinder weitergeben. Etwa zwei Drittel werden nicht zu Tätern (Hartwig 2006, Müller et al. 2004). In diesem Zusammenhang wird auch von einer Gewaltspirale gesprochen.

Söhne aus gewalttätigen Herkunftsfamilien neigen später dazu, selbst Gewalt als Durchsetzungsmittel ihrer Bedürfnisse anzuwenden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre zukünftige Partnerin misshandeln, liegt um das Zehnfache höher als bei Männern, die in ihrer Kindheit nicht Zeuge von häuslicher Gewalt wurden. Allerdings werden aufgrund innerfamiliärer Gewalterfahrungen in der Kindheit diese Jungen nicht zwangsläufig zu gewalttätigen Männern.

Mädchen wiederum sind stärker gefährdet, später selbst Gewalt in ihren Beziehungen zu tolerieren. Mehr oder weniger unreflektiert wird das mütterliche Verhalten, nämlich Misshandlungen zu erdulden und zu decken oder Streit zu schlichten, übernommen. Es muss davon ausgegangen werden, dass eine große Anzahl der Frauen, die von ihren Lebenspartnern körperlich misshandelt werden, bereits in der Kindheit Gewalt zwischen den Eltern erlebt hat (Pfeiffer et al. 1999). 

Mag.a. Dr.in Barbara Schleicher, Sozialwissenschaftlerin, Projektkoordinatorin der Gesundheit Österreich GmbH, Wien

Literatur

  • [1] BMWFJ (Hg.): Gesundheitliche Versorgung gewaltbetroffener Frauen. Ein Leitfaden für Krankenhaus und medizinische Praxis Wien, 2010
    Anleitungen zur Gesprächsführung, Beratung, Intervention sowie Formulare zur Befunderhebung, Dokumentation und Spurensicherung
    PDF, 2 MB
  • [2] Broschüre "Kinderschutz und Kindeswohl bei elterlicher Partnerschaftsgewalt"

    Weitere Informationen
  • [3] Kavemann, Barbara: Häusliche Gewalt gegen die Mutter - Ergebnisse neuerer deutscher Untersuchungen. In: Kavemann, Barbara / Kreyssig, Ulrike: Handbuch Kinder und häusliche Gewalt, Wiesbaden, 2006
  • [4] Kindler, Heinz: Partnergewalt und Beeinträchtigungen kindlicher Entwicklung: ein Forschungsüberblick. In: Kavemann, Barbara / Kreyssig, Ulrike: Handbuch Kinder und häusliche Gewalt, Wiesbaden, 2006
  • [5] Strasser, Philomena: Kinder legen Zeugnis ab. Gewalt gegen Frauen als Trauma für Kinder. Innsbruck, Wien, München, 2001
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