Pflege in der Familie - Ein Risiko für Gewalt?
Expertinnenstimme

Mag. Claudia Gröschel-Gregoritsch
Mag.a Claudia Gröschel-Gregoritsch, MPH
Pflege in der Familie - Ein Risiko für Gewalt?
Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, alte pflegebedürftige Menschen wären überwiegend in Institutionen, wie Seniorenwohnheimen, „Residenzen“ oder Pflegeheimen „untergebracht“, leben die meisten älteren bis hochbetagten Menschen nach wie vor zuhause – entweder in der eigenen Wohnung oder bei Familienangehörigen.Der weitaus größte Teil der Betreuung und Pflege älterer Menschen findet in den Familien bzw. meist primär durch eine/n nahe/n Angehörige/n statt. Rund 8,5 % aller Frauen und 4,7 % aller Männer pflegen oder betreuen jemanden im sozialen Nahraum.
Was bedeutet „Pflege eines Angehörigen“?
Viele auch sehr alte Menschen kommen trotz Einschränkungen in ihrem Alltag erstaunlich gut zurecht. Es sind eher kleine Hilfestellungen, die dies möglich machen: sei es beim Ausfüllen von Formularen, beim Aufhängen der Wäsche oder beim Großeinkauf. Natürlich wird vor allem bei abnehmender Mobilität und einem meist kleiner werdenden Bekanntenkreis auch das Bedürfnis nach Gesellschaft, nach Zuwendung, nach Verständnis, nach einem (Mit-)Teilen von Erinnerungen größer.
Die Wünsche nach praktischer Hilfe und nach Aufmerksamkeit richten sich naheliegender Weise vor allem an die vertrautesten Menschen im Umfeld, zumeist konzentrieren sich die Erwartungen dabei auf eine bestimmte Person, z.B. den/die Ehepartner/in, die Tochter oder Schwiegertochter.
In aller Regel findet im Laufe der Zeit eine allmähliche oder auch plötzliche Erweiterung des Unterstützungsbedarfs statt. Aus einem sich ab und zu Kümmern kann eine zunehmend anstrengende und vereinnahmende Betreuung als Dauerzustand werden. Je nachdem kommen auch Pflegeerfordernisse hinzu, die die Angehörigen vor große „technische“ und emotionale Herausforderungen stellen.
Für gut ein Viertel der eine/n Angehörige/n betreuenden Frauen bzw. ein Sechstel der betreuenden Männer beträgt der Aufwand mehr als 15 Stunden in der Woche.
Angehörigenpflege hat meist zwei Seiten
Die Pflege eines nahestehenden Menschen kann das eigene (Er-)Leben bereichern. Es tut einfach gut, jemandem, den man mag und dem gegenüber man sich vielleicht auch zu Dank verpflichtet fühlt, helfen zu können - zu spüren, dass man gebraucht wird und die starke Wirkung von kleinen „Taten“ zu erfahren.
Der Preis dieses manchmal – aber eben auch nicht immer! - guten Gefühls ist aber kein geringer. Die Pflege eines Angehörigen kostet Kraft, Zeit und Geduld und wirkt sich auf alle anderen Lebensbereiche aus.
Pflegende Angehörige sind einer Reihe von Belastungen ausgesetzt
Im Zuge der Betreuung und Pflege eines älteren Angehörigen kommt es unweigerlich zu emotionalen Belastungen: Verantwortungsübernahme für jemand anderen, ein Rollenwechsel und damit verbundene Verlusterfahrungen und Trauer, die Sorge um den Hilfebedürftigen aber auch um sich selbst und andere Menschen, die vielleicht auf der Strecke bleiben.
Zeitliche Einschränkungen können die Lebensqualität sehr beeinträchtigen: ständige Erreichbarkeit, feste Einsatzzeiten, die die Freizeit beschränken, zusätzliche unvorhergesehene „Noteinsätze“ …
Mit zunehmendem Pflegebedarf nimmt meist auch das Problem körperlicher Überanstrengung z.B. durch Heben und Schlafmangel, und oft auch das der finanziellen Belastung z.B. aufgrund pflegebedingter Mehraufwendungen, eventuell notwendiger Wohnungsadaptierungen, Reduktion der Erwerbsarbeit.
Viele Menschen nehmen sich in so einer Situation sehr stark zurück – was Auswirkungen hinsichtlich Vernachlässigung der Selbstsorge aber auch Überstrapazierung der Beziehung zum/zur Pflegebedürftigen oder auch zu anderen nahestehenden Personen haben kann.
Pflegende Angehörige als „Risikogruppe“ – auch für Gewalt?
Zu einer – die eigene Gesundheit und die Beziehung gefährdenden - „riskanten“ Belastung wird die Pflege eines nahen Angehörigen vor allem dann, wenn einer der folgenden Aspekte zutrifft:
- Aus leicht zu erbringenden Unterstützungen wird unmerklich ein immer größerer Hilfebedarf und es gibt keinen klaren Punkt, an dem eine Entscheidung für – oder gegen – die Übernahme der Betreuung stattfindet.
- Es tritt ein plötzliches Ereignis ein, wie ein Sturz oder Schlaganfall, welches den nächstliegenden Angehörigen unfreiwillig in eine Funktion und damit auch Rolle als „Pflegende/r“ katapultiert.
- Es besteht ein großer sozialer Erwartungsdruck, von außen, aber auch in der eigenen Wahrnehmung, dass es die Pflicht oder Bestimmung, das Schicksal oder auch das „Kreuz“ genau dieser Person im Familiengefüge ist, die Last der Pflege zu übernehmen und „klaglos“ zu tragen.
- Es sind sehr starke, positive wie negative Gefühle, die die Beziehung prägen und es massiv erschweren, sich Freiräume zuzugestehen und Unterstützung durch Dritte zuzulassen.
- Es gibt materielle Abhängigkeiten, z.B. vom Einkommen des hilfebedürftigen älteren Menschen, eine nur gemeinsam leistbare Wohnung, die die Situation ausweglos erscheinen lassen.
- Die ganze Verantwortung liegt bei einer Person: Es gibt niemanden, mit dem man die Last aber auch die positiven Aspekte der Pflege wirklich teilen kann.
- Aggressive oder unverständliche Handlungen seitens des/der Pflegebedürftigen strapazieren die pflegende Person zusätzlich.
Enge und Ausweglosigkeit bedrücken viele pflegende Angehörige innerlich – und können sich auch nach außen „entladen“.
Auch der pflegebedürftige ältere Mensch ist starken emotionalen Belastungen ausgesetzt
Es ist nicht leicht, mit plötzlich auftretenden oder allmählich wachsenden Gesundheitseinschränkungen zurechtzukommen; insbesondere der Verlust der Selbständigkeit wird meist als sehr schmerzlich wahrgenommen.
Gerade Menschen, die es nie gewohnt waren, Hilfe in Anspruch zu nehmen, leiden unter der neuen „Schwäche“ und scheuen sich oft, diese gegenüber sich selbst und nach außen zuzugeben. Eine „Belastung“ für die Angehörigen zu sein ist ein sehr bedrückendes Gefühl.
Es ist verständlich, dass Menschen in solchen Situationen nicht immer nur dankbar, gerecht, freudig auf die Personen reagieren, die sich um sie kümmern.
Und auch hier gibt es natürlich ein paar erschwerende Aspekte:
- Demenzielle Erkrankungen machen zunächst Angst vor Kontrollverlust - und später eine Kontrolle des eigenen Verhaltens unmöglich
- Sich die Person nicht „aussuchen“ zu können, die einen betreut: auf jemanden angewiesen zu sein, den man nicht mag – oder auch, den man eben gerade nicht belasten möchte
- Eine unerfreuliche gemeinsame Vergangenheit
Weitere Faktoren erhöhen das Risiko von Gewalt im Kontext der innerfamiliären Pflege
- Gewalterfahrungen als Teil der Familiengeschichte
- Weitere allgemeine Gewaltrisikofaktoren wie Alkoholabhängigkeit, enge Wohnverhältnisse, wenig finanzieller Spielraum
- Soziale Isolation
Pflegebedürftige/r und die Hauptpflegeperson zeigen oft eine enorme soziale Kompetenz und leisten auch im Hinblick auf ein wertschätzendes und würdiges Miteinander unter sehr schwierigen Bedingungen Großartiges.
Dies gilt es zu unterstützen – präventiv, um die Gesundheit derjenigen zu schützen, die dabei sind ihre Kraft ausbrennen, und präventiv auch, um zu verhindern, dass es eben doch manchmal zu Gewalthandlungen kommt: sei es „nur“ verbal oder auch unmittelbar physisch.
Pflegebedürftige/r und pflegende/r Angehörige/r neigen dazu, sich abzukapseln.
Häufig nehmen Pflegebedürftige und deren Angehörige erst sehr spät und in zu geringem Ausmaß Hilfe von außen in Anspruch. Das kann finanzielle Gründe haben, liegt aber oft auch an der betreuungsimmanenten Dynamik.
Zumeist sind es sehr enge Bezugspersonen wie Töchter, Schwiegertöchter oder Ehegatten, mit einer langen gemeinsamen Geschichte, die die Pflege maßgeblich übernommen haben.
Das bedeutet, dass häufig ein hohes moralisches Pflichtgefühl kombiniert mit einer starken emotionalen - positiven oder negativen, oft ambivalenten - Verbundenheit die „Pflegebeziehung“ charakterisiert. Meist sind es im Kern zwei Personen, die in dieser Weise eng verbunden sind. Andere Angehörige sind oft zunächst erleichtert, finden später aber vielleicht auch einfach keinen Platz mehr darin.
Allzu hohe Erwartungen und Ansprüche belasten die Beziehung ebenso wie offene oder unterschwellige Aversionen und Frustrationen. Trauer um den Verlust des vertrauten Menschen, so wie er früher war, Sorgen und Ängste vor weiteren Verschlechterungen des Gesundheitszustands des Hilfebedürftigen, aber auch nachlassenden Kräften des/der Pflegenden selbst, wirken bedrückend.
Im weiteren Verlauf findet dann oft eine Abkapselung der pflegenden Angehörigen statt – gegenüber Freunden, Nachbarn, sozialem Umfeld – aber auch gegenüber anderen Familienmitgliedern, die sich entfernt haben oder auch „abgehängt“ wurden. Das Aufeinander angewiesen Sein wird immer stärker, während die eigene Perspektive schrumpft.
Pflegende Angehörige brauchen Informationen, Unterstützung und Entlastung:
- Informationen über Krankheitsbild, Pflegehilfsmittel, finanzielle Hilfen, …
- Unterstützung in Form von Pflegeberatung, Schulung und Anleitung
- Entlastung durch Teilen der gesamten Verantwortung wie auch der täglichen Aufgaben, z.B. in Form von innerfamiliärer Aufgabenteilung, Inanspruchnahme professioneller Dienste
Die Möglichkeit sich bei Problemen vertrauensvoll an hierfür qualifizierte Stellen wenden zu können, z.B. Beratungsstellen für pflegende Angehörige
Ältere, hilfe- und pflegebedürftige Menschen brauchen angemessene Pflege, Anregungen und Freiräume:
- Fachlich qualifizierte Pflege
- Austausch mit anderen Menschen, z.B. Teilnahme an Gruppen älterer Menschen die gemeinsame Interessen teilen, Seniorentagesstätten
- Anregungen, z.B. durch Teilnahme an Ausflügen, an kulturellen Veranstaltungen, durch qualifizierte Besuchsdienste, Bücher, Filme, …
- Autonomie-Erfahrungen: Entscheidungsfreiheit was die Gestaltung ihres Alltags betrifft, Kontrolle über die eigenen Lebensbereiche und Lebensplanung, durch entsprechende Information und Beratung
- Die Möglichkeit, sich bei Problemen in der Familie an externe Unterstützungseinrichtungen zu wenden, wie z.B. Beratungsstellen für Opfer von Gewalt
Unterstützung in familiären Pflegearrangements bedeutet letztlich auch Gewaltprävention!