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Intersektionale Gewaltprävention

ExpertInnenstimme

Elli Scambor

Mag.a Elli Scambor

Mag.a Elli Scambor

Intersektionale Gewaltprävention – eine Frage der Haltung

Life is complex and so are you!

So lautete der Schlüsselsatz des multilateralen EU-Grundtvig Projekts Implementation Guidelines for an Intersectional Peer Violence Preventive Work (IGIV)1, das sich mit der Entwicklung von Grundlagen einer intersektionalen gewaltpräventiven Jugendarbeit beschäftigte. Im folgenden Beitrag wird das Konzept kurz skizziert und es werden Fragen der Haltung dieses pädagogischen Zugangs erläutert.

Was bedeutet intersektionale Gewaltprävention?

Die intersektionale Perspektive ist die Antwort auf die Frage, wie wir einer zunehmend heterogenen Gesellschaft begegnen können, wie wir Phänomene wie Gewalt erfassen können, ohne dabei gleich zu generalisieren bzw. eine Täter-Opfer Bild zu konstruieren.

Die Anfänge des intersektionalen Ansatzes finden wir in der Kritik an der feministischen Bewegung der späten 60er Jahre. Vor allem die sogenannten Women of Colour2 warfen der von heterosexuellen Weißen Frauen dominierten feministischen Bewegung in den USA vor, die Definitionsmacht über „Fraueninteressen" (Mutterschaft, reproduktive Rechte, Abtreibung, Sexualität usw.) zu beanspruchen.

Die universelle Rede von der Unterdrückung der Frauen führte dazu, dass Unterschiede zwischen Frauen (etwa begründet durch Hautfarbe, Milieu, physische und psychische Fähigkeiten, etc.) nicht berücksichtigt wurden.

Die Analysen US-amerikanischer Antidiskriminierungsgesetze3 machten darüber hinaus deutlich, dass diese entweder zu Gunsten Schwarzer4 Männer oder zu Gunsten Weißer Frauen entwickelt wurden, jedenfalls sicher nicht für Schwarze Frauen, da die dabei zur Anwendung kommenden Kategorien ‚Gender' und ‚Race' als einander gegenseitig ausschließend gedacht wurden.

Das Konzept der Intersektionalität wurzelt also in der kritischen Reflexion generalisierender Strömungen, die gesellschaftliche Institutionen und Regelungen (Gesetze) durchdringen. Der Begriff dieses Konzepts, wahrscheinlich zuerst von Kimberlé Crenshaw (1998) genutzt, unterstreicht die Notwendigkeit, dass unterschiedliche Lebenswirklichkeiten von Individuen immer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse betrachtet werden müssen.

Der Intersektionalitätsansatz wird für eine Erweiterung der gewaltpräventiven Arbeit genutzt, weil mit diesem Ansatz eine Verknüpfung von Diskriminierung/Gewalt und Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen sozialen Gruppen (Geschlecht, Migration, Milieu, etc.) thematisiert werden kann. Ein Beispiel dazu: Die Verknüpfung von ‚Mann' und ‚weiße Hautfarbe' gilt gesamtgesellschaftlich als vorteilhaft.

Diese Vorteile ergeben sich i.d.R. aber nur dann, wenn andere Zuschreibung nicht in die gegenteilige Richtung wirken (‚Homosexualität', ‚Armut', etc.). Dabei sollte u.a. berücksichtigt werden, dass der Kontext (Unterrichtsstunde, etc.) bedeutsam ist, in welchem sich männliche Jugendliche (selbst)positionieren (dort eher ‚Türke', da eher ‚Österreicher').5

Dieses Beispiel macht darüber hinaus deutlich, dass wir uns vom Konzept der ‚Männlichkeit' verabschieden müssen. ‚Die Burschen' gibt es nicht, es gibt unterschiedliche Burschen, die sich der einengenden Kategorisierung in der Praxis entziehen.6

Mit der intersektionalen Perspektive sollen individuelle Lebensumstände in den Blickpunkt rücken, die Risiko- und Resilienzfaktoren im Zusammenhang mit Gewalt maßgeblich beeinflussen. Mit gewaltpräventiven Methoden ‚von der Stange' lassen sich angesichts der Komplexität jugendlicher Lebenswelten nur mangelhafte Erfolge erzielen. Vielmehr geht es darum, das pädagogische Handeln auf die individuellen Lebenszusammenhänge der Jugendlichen auszurichten.

Mit welcher Haltung nähern wir uns Fragen sozialer Differenzen und Diskriminierungen?

(1) Homogenisierungen vermeiden

Sozialpädagogische Angebote sollen die komplexen Realitäten von Jugendlichen immer im Auge behalten. Tun sie dies nicht, birgt gewaltpräventive pädagogische Arbeit zu den Themen Diskriminierung/Privilegierung die Gefahr von Homogenisierung und Stereotypisierung.

D.h. ganze Personengruppen können als Täter/innen- oder Opfergruppen konstruiert werden. Ein Beispiel dazu: Die öffentliche Wahrnehmung ist vielerorts geprägt vom Bild des jungen muslimischen Mannes, der angeblich eine besondere Gewaltbereitschaft zeigt.

Obwohl Studien nahelegen, dass dieser Zusammenhang unhaltbar ist, findet sich das Bild des ‚Türkischen Macho' immer wieder in öffentlichen Diskussionen. Dies kann im Bereich der sozialen Arbeit dazu führen, dass auf Basis dieser Bilder spezielle Maßnahmen entwickelt und damit Stereotype fortgeschrieben werden.

Der Berliner Sozialpädagoge Hakan Aslan von DTK – Wasserturm sagt dazu: „Das Fatale (an den Programmen) ist, dass die meisten, die ich kenne darauf abzielen, die Jugendlichen zu stigmatisieren. Du kriegst Fördergelder, wenn du sagst, du arbeitest mit schwierigen oder mit gewalttätigen Jugendlichen. Alles, was in diese Richtung geht. Und das möchte ich nicht bedienen. Ich will sie nicht noch mal stigmatisieren, sie sind schon stigmatisiert. Ich möchte vielmehr deutlich machen, dass ich mit Jugendlichen arbeite, die in einer schwierigen Phase ihres Lebens sind. Schon mal die Pubertät an sich ist schwierig und die wachsen nun zwischen zwei Kulturen auf und das macht die Sache noch ein bisschen schwieriger."7

In der Praxis für gewaltpräventive Pädagogik erweisen sich TäterInnen-Opfer Bilder bzw. andere Formen der Homogenisierung (‚die Tschetschenen', ‚die homophoben Muslims', etc.) als sehr hinderlich. Ein erster Schritt in Richtung intersektionale gewaltpräventive Arbeit setzt deshalb zumeist bei der Analyse der eigenen Herangehensweise an. Welche Zielgruppe(n) spreche ich an? Welche Art von Problem wird mit dem Angebot angesprochen (oder unterstellt)? Kann mit diesem Angebot an Problemen gearbeitet werden, die die Zielgruppe tatsächlich betreffen?

(2) Andere Formen von Gewalt aufzeigen

Denken wir an Gewalt, dann bewegen wir uns assoziativ zumeist in Richtung körperlich-interpersonelle Gewalt. Andere Formen von Gewalt kommen selten zur Sprache; wie zum Beispiel sozial-ökonomische Marginalisierung und/oder rassistische Diskriminierung von Jugendlichen. Diese Formen der Gewalt bleiben im dominanten Diskurs häufig unsichtbar. Prinzipiell kann zwar jede/r von Ein- und Ausschließungsprozessen betroffen sein, dennoch müssen wir davon ausgehen, dass Privilegien nicht zufällig zwischen sozialen Gruppen variieren.

Für PädagogInnen heißt das, möglichst viele Aspekte verschiedener Diskriminierungs- wie Privilegierungsdimensionen zu begreifen, die sich in der einzelnen Person oder auch Personengruppen wiederfinden. Das heißt nicht, dass wir immer alles wissen. Im Gegenteil, es heißt, ganz viel zu fragen. Auf diese Weise können wir drauf achten Personen(gruppen), mit denen wir arbeiten, nicht in einem Opfer-oder TäterInnen-Bild festzuschreiben.

(3) Dominanzverhältnisse kritisch hinterfragen und überwinden

In der Auseinandersetzung mit Selbstbildern und Handlungsperspektiven von Jugendlichen kommen i.d.R. Barrieren zur Sprache, die in gesellschaftlichen Dominanzverhältnisse und/oder Dominanzkulturen in Organisationen begründet sind. Eine intersektionale Perspektive arbeitet an der Überwindung oder dem Abbau von Dominanzverhältnissen. Dazu müssen Dominanzstrukturen zuerst kritisch analysiert und verstanden werden. Entscheidend ist hierbei ein Verständnis der Dynamiken von Gewalt und Diskriminierungen in unserer Gesellschaft, die auf der Gegenüberstellung eines ‚Wir' und eines ‚Ihr' basiert, auf Ethnisierungen und Stereotypen.

In der pädagogischen Praxis kann dies bedeuten, dass jungen Menschen, die soziale Exklusion und Gewalt wegen ihrer Hautfarbe und/oder eines ihnen zugeschriebenen kulturellen Hintergrunds usw. erfahren haben, der Begriff Rassismus zugänglich gemacht werden sollte, damit sie Diskriminierungserfahrungen als solche benennen können. Das Ziel dabei ist ein Empowerment der Jugendlichen, zum Beispiel dadurch, dass sie im Austausch untereinander erkennen können, dass ihre Erfahrungen nicht bloß individueller Art sind und dass sie gemeinsame Widerstandsstrategien entwickeln können.

Dominanzverhältnisse kritisch hinterfragen bedeutet aber auch, dass ‚Norm' und ‚Abweichung' einer kritischen Reflexion unterzogen werden müssen. Dies lässt sich beispielsweise gut in der kritischen Reflexion von Beschimpfungen bewerkstelligen, die auf Sexualitäten, Geschlecht, Behinderungen und andere gesellschaftliche Ungleichheitsmarkierungen zurückgreifen. Schimpfwörter gehören zur Alltagssprache vieler Jugendlicher und sind beliebte Instrumente in den Dynamiken von Inklusion und Exklusion.

Im Rahmen von IGIV wurden Methoden, Tools, Videoclips und Leitfäden für Projekte, Organisationen und Programme entwickelt, die die intersektionale Perspektive auf die Ebene praktischer Zugängen in der pädagogischen Arbeit heben. Diese Werkzeuge haben sich in der Praxis bewährt, weshalb wir ruhigen Gewissens eine Empfehlung dafür aussprechen können. Ein Blick auf die Webseite lohnt sich jedenfalls.

Zitierte Literatur

1 http://www.intersect-violence.eu

2 Combahee River Collective (1981): A Black Feminist Statement. In: Moraga, Cherrie/Anzaldua, Gloria (Hg.): This bridge called my back. Writings by radical women of colour, Kitchen Table, New York: Women of Colour Press, 210–218

3 Crenshaw, K. (1998). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics. In: Phillips, Anne (Hg.): Feminism & Politics. New York, S. 314 – 343.

4 In diesem Text wird das Wort "schwarz" mit einem großen S geschrieben, weil es sich sowohl auf eine politische Kategorie und soziale Realität bezieht als auch auf eine Widerstandspraxis. Es ist außerdem ein Begriff, den Schwarze Menschen als Selbstbezeichnung gewählt haben.

5 Busche, M. (2011). Intersektionalität und Jungenarbeit. Vortrag im Rahmen der Netzwerktagung „Vielfalt als Ziel von Jungenpädagogik". 16.9.2011. Passau

6 Connell, Robert W. (2000): The Men and the Boys, Oxford: Allen & Unwin.

7 Stuve, O./Scambor, E./Fischer, M./Hrženjak, M./Humer, Z./Wittamer, M./Künstler, S./Busche, M./Scambor, Ch./Kurzmann, M.M./Frenzel, J./Wojnicka, K./Cosso, A.R.(2011). Handbuch Intersektionale Gewaltprävention - Leitlinien zur Umsetzung einer Intersektionalen Gewaltprävention (IGIV).

Mag.a Elli Scambor, Soziologin, Pädagogin.

Wissenschaftliche Koordinatorin im Forschungsbüro des Vereins für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark (vormals Männerberatung Graz). Lektorin an Universitäten in Graz und an der FH Kärnten. Mitglied der GenderWerkstätte. Managing Diversity Expertin.

 

 

Literatur

  • [1] Busche, Mart/Scambor, Elli/Stuve, Olaf: An Intersectional Perspective in Social Work and Education [Eine intersektionale Perspektive in Sozialarbeit und Bildung]. In: ERIS web journal, 1/2012, p. 2-14., 2012
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  • [2] Stuve, O./Scambor, E./Fischer, M./Hrženjak, M./Humer, Z./Wittamer, M./Künstler, S./Busche, M./Scambor, Ch./Kurzmann, M.M./Frenzel, J./Wojnicka, K./Cosso, A.R.: Handbuch Intersektionale Gewaltprävention - Leitlinien zur Umsetzung einer Intersektionalen Gewaltprävention (IGIV). 2011

    Weitere Informationen
  • [3] Scambor, E. & Busche, M.: "My home is where the heart is". Intersektionale Ansätze in der Offenen Jugendarbeit. In: Land Steiermark, Fachabteilung 6A - Landesjugendreferat (Hrsg.), Jugendarbeit und Heimat. Versuch einer interdisziplinären Auseinandersetzung. S. 80 - 97., 2010
  • [4] Scambor, Ch., Scambor, E., Reinbacher, F., Stöckel, I., Hrzenjak, M., Wittamer, M., Fischer, M., Busche, M., Stuve, O., Puchert, R., Pape, T.& Humer, Z.: PeerThink - Ein Handbuch für intersektionale Gewaltprävention mit Peers. 2009
    Daphne II Projekt "PeerThink - Tools and resources for an intersectional prevention of peer violence".