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zusammenLeben ohne Gewalt

Verarbeitung von Gewalterfahrung

Expertinnenstimme

Anne Lintner, Renate Ascher

Mag. Anne Lintner, Renate Ascher

Mag. Anne Lintner und Renate Ascher

Kinder als betroffene Opfer und Zeugen von Gewalt

Eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Kindern ist, dass ihnen innerfamiliär ein Gefühl von Sicherheit und Schutz geboten wird. Bei jeglicher Gewalterfahrung (nahezu unabhängig, ob es sich um selbst erlebte Gewalt handelt oder ob Kinder Zeugen von Gewalt sind) wird dieses Gefühl beeinträchtigt.

Eine Wiederherstellung des sicheren Rahmens kann dadurch erfolgen, dass eine wesentliche Bezugsperson das betroffene Kind ernst nimmt und den Schutz wieder herstellt.

Aus unserer Erfahrung können wir sagen, dass die Reaktion des Umfeldes unmittelbar nachdem das Kind seine Gewalterfahrung mitgeteilt hat, ausschlaggebend dafür ist, wie die Verarbeitung erfolgen kann. Wichtig ist es, dass man bereit ist, dem Kind zu glauben, Ruhe zu bewahren und sich Unterstützung zu holen.

Nach Gewalterfahrungen weisen Kinder unterschiedliche Verarbeitungsmuster auf, um mit dem Erlebten zurecht zu kommen. Diese zeigen sich folgendermaßen:

Verdrängung und Kompensation:

Durch die Verdrängung gelingt es dem Kind, die emotional negativ besetzten Inhalte aus der bewussten Wahrnehmung auszuschließen. Diese Form der Kompensation ist für den Menschen enorm hilfreich, um nach traumatisierenden Ereignissen den Alltag zu bewältigen. Natürlich ist nicht abzusehen, wann und in welcher Form die Erinnerung wieder ins Bewusstsein gelangt.

Ein Fall aus der Praxis:

In einem Vortrag, den wir für Eltern in einem Kindergarten hielten, thematisierten wir unter anderem den Unterschied zwischen sogenannten Doktorspielen und sexuellen Grenzverletzungen. Im Anschluss bat uns eine Mutter um ein Gespräch.

Dabei erzählte sie, dass sie mit einem gleichaltrigen Kind im Alter von 7 Jahren öfters sexuelle Grenzüberschreitungen erfahren habe, die sie zu dieser Zeit schambesetzt aber auch als sehr spannend erlebt habe. Es wäre ihr damals unmöglich gewesen, mit ihren Eltern über diese verwirrenden Erlebnisse zu sprechen.

Über Jahre hatte sie dann keinerlei Erinnerung an diese Erlebnisse. Als sie sich mit 16 Jahren zum ersten Mal verliebte, kamen diese Erinnerungen wieder und mit ihnen auch Scham- und Schuldgefühle an die Oberfläche. Mittlerweile ist die Frau 32 Jahre alt und nach wie vor fällt es ihr sehr schwer, intime Beziehungen erfüllend zu leben. Eine psychotherapeutische Behandlung ist hier angeraten.

Re-inszenierungen

„Ein Trauma, das man nicht realisiert, muss man wiedererleben oder re-inszenieren.“
(Pierre Janet, 1889)

Kinder haben oft eine bewundernswert leichte Form, mit Dingen, die sie erleben und die sie noch nicht zuordnen können, umzugehen: sie re-inszenieren.

So zum Beispiel der fünfjährige Hansi, der mit seiner Mutter auf dem Stadtfest war. Neben anderen Attraktionen beobachtete er fasziniert das Bungee-Jumpen, das von einem Kran aus  angeboten wurde. Nach zwei Stunden gebannter Beobachtung des Geschehens musste Hansi gehen. Das anschließende Wochenende verbrachte er damit, mit seinem Spielzeugkran, vielen Playmobil-Figuren, einem langen Gummiband, und dem Ruf „Bungeeee!“ das Abenteuer im Kinderzimmer nachzuspielen.

Auch negative Erlebnisse werden oft in dieser Art verarbeitet.

Ein weiterer Fall aus der Praxis im Kinderschutz:

Eine Lehrerin wandte sich an den Kinderschutz, da ein achtjähriger Schüler den Mitschülern gegenüber immer wieder sexualisiertes Verhalten zeigte. Die Mutter konnte davon überzeugt werden, dass eine Unterstützung für ihren Sohn durch den Kinderschutz erforderlich ist. Im Laufe von mehreren Gesprächen mit dem Kind konnte langsam Vertrauen aufgebaut werden, sodass er dann erzählen konnte, dass es einen bereits jahrelang andauernden Missbrauch an ihm durch eine bekannte Jugendliche gibt.

Die Re-inszenierung der Erlebnisse in Form des sexualisierten Verhaltens in der Schule war ein Hilfeschrei, der durch eine aufmerksame Lehrerin auch gehört wurde.  

Dissoziation:

Bei traumatischen Ereignissen kann es bei Kindern und Jugendlichen zu Dissoziation kommen, welche die psychische Abwehrfunktion hat, traumatische Reize nicht so intensiv wahrzunehmen. Dies hat zwar einerseits eine Schutzfunktion andererseits kann das traumatische Erlebnis so aber nicht vollständig in das Bewusstsein integriert werden.

Die Folge kann eine posttraumatische Belastungsstörung sein, da aufgrund der Nicht-Integration bereits kleinste Reize ausreichen, um das Trauma neuerlich auszulösen. Insbesondere bei kleinen Kindern ist das Risiko der Dissoziation erhöht, da diese noch nicht über die Kampf-Flucht-Reaktionen verfügen.

Dazu ein weiteres Beispiel aus unserer Arbeit:

Eine Jugendliche erlebte als Kind jahrelang sexuellen Missbrauch durch ihren um zehn Jahre älteren Bruder. Der Bruder wanderte nach Kanada aus, sie hatten aber vielfach über Skype Kontakt miteinander. Das Mädchen schilderte die Zeit als recht unbelastete Phase ihres Lebens, lediglich nach dem Austausch von Zärtlichkeiten mit ihrem Freund übermannte sie eine Traurigkeit, die sie nicht zuordnen konnte. Die Beziehung schilderte sie größtenteils als glücklich.

Nach einem gemeinsam verbrachten Wochenende zog sich ihr Freund im Bad an, er kam mit einem neuen Hemd, das sie noch nie gesehen hatte. Das rot-karierte Hemd entsprach genau dem Hemd, das ihr Bruder gerne getragen hatte als sie noch ein Kind war. Dieser Auslöser genügte als Reiz, um die traumatisierenden Erlebnisse von damals in ihr Bewusstsein zu bringen. Sie geriet dadurch völlig außer sich und in Panik und entwickelte massive Symptome, die sich anschließend auch im Alltag stark bemerkbar machten.

Wenn Kinder und Jugendliche nach einer Gewalterfahrung Verarbeitungsmuster in der beschriebenen Form entwickeln, ist eine Aufarbeitung dringend anzuraten. Ziel ist es, das traumatische Erlebnis in das Bewusstsein zu integrieren und den Kindern und Jugendlichen die Sicherheit zu vermitteln, dass sie die vom Trauma herrührenden Gefühle kontrollieren und abschwächen können.

Mag. Anne Lintner und Renate Ascher vom Kinderschutzzentrum Wörgl.

 

Literatur

  • [1] Beratungsstelle TARA: Sexualisierte Gewalt und Trauma
    Informationsbroschüre der Beratungsstelle TARA

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