THEMEN 2013
Expertinnenstimme

Karin Wachter
Mag.a Karin Wachter
Gesprächsführung und Grundsätze in der Erstberatung zu sexualisierter Gewalt an Frauen
Jede dritte Frau in Österreich ist von sexualisierter Gewalt betroffen. Das Sprechen über sexualisierte Gewalt an Frauen und Mädchen in ihren unterschiedlichen Formen und ihrer Alltäglichkeit, von der (non)verbalen Belästigung, dem körperlichen Übergriff bis zur Vergewaltigung, ist jedoch nach wie vor ein Tabu.
Für Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, die in ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Integrität verletzt worden sind, häufig traumatisiert sind, und unter den, meist schwerwiegenden, physischen, psychischen und sozialen Folgen leiden, ist die Reaktion von Außenstehenden und Bezugspersonen auf die Gewalterfahrung besonders wichtig.
Eine nicht wertende, empathische, die betroffene Frau in ihrer Selbstbestimmung respektierende Grundhaltung, kann die Bewältigung einer Vergewaltigung positiv beeinflussen.
Menschen, die mit Frauen und Mädchen in begleitender, beratender oder pflegender Funktion arbeiten, können in ihrem beruflichen Alltag auch mit sexualisierter Gewalt konfrontiert sein. Sie sind Ansprech- und Vertrauenspersonen für betroffene Frauen und wichtige Vermittler/innen für die Inanspruchnahme professioneller Hilfe.
Frauen schämen sich oft und haben Angst, über die erlebte Gewalt zu berichten. In der Fachliteratur wird darauf hingewiesen, dass Frauen zwar häufig versuchen, über das Erlebte zu sprechen, auf ihrem Weg der Hilfesuche wird die Gewaltsituation jedoch in vielen Fällen verharmlost. Man begegnet den Frauen mit Vorurteilen, sucht die (Mit)schuld bei ihnen, nimmt sie nicht ernst oder glaubt ihnen nicht. Dieses Verhalten ist Teil einer gesellschaftlichen Kultur, in der sexualisierte Übergriffe und sexualisierte Gewalt legitimiert und tabuisiert werden.
Deshalb ist die Sensibilisierung von Multiplikator/innen für das Thema Gewalt und insbesondere für sexualisierte Gewalt, die durch ihre „Nichtsichtbarkeit“ häufig nicht erkannt wird, von großer Bedeutung.
Wenn eine betroffene Frau Unterstützung in Anspruch nehmen möchte, gibt es zwei mögliche Ausgangssituationen:
- Sie hat entsprechende Symptome, wie Flashbacks, Alpträume, Panikattacken, Despressionen, Unruhe, emotionale Empfindungslosigkeit, etc. und kann sich an eine oder mehrere traumatische Erfahrungen erinnern.
- Sie hat zwar entsprechende Symptome, kann sich aber nicht an eine Traumatisierung erinnern (Amnesie). Auch längere Erinnerungslücken (z.B. bezüglich der Kindheit) sind möglich.
Es geht nicht darum, dass Multiplikator/innen aus den unterschiedlichen Arbeitsbereichen Expert/innen zum Thema werden sollen – dafür gibt es die Fachstellen – aber zu wissen, wie mit einem Verdacht umgegangen werden und ein Erstgespräch gestaltet werden kann, ist hilfreich für betroffene Frauen und entlastend für Multiplikator/innen. Was zudem in fast jeder Situation getan werden kann, ist gewaltbetroffenen Frauen zu vermitteln, dass sie ein Recht auf Unterstützung haben, indem auf Fachstellen und Opferschutzeinrichtungen hingewiesen wird.
Für die Beratung zu (sexualisierter) Gewalt gibt es – wie immer in der Beratung - kein Patentrezept. Jede Frau, jede Situation, jede Lebensgeschichte ist einzigartig.
Es gibt in der Erstberatung zu sexualisierter Gewalt jedoch einige Dinge, die wichtig sind, zu beachten:
- Schaffen Sie einen geeigneten Gesprächsrahmen (Vieraugengespräch – keine Anwesenheit von Familienmitgliedern; nehmen Sie sich genug Zeit). Betonen Sie die eigene Verschwiegenheit, das schafft Sicherheit.
- Nehmen Sie die Hilfesuchende ernst, auch wenn Sie nicht alles gleich verstehen oder Ihnen manches zunächst unlogisch vorkommt (Dissoziation/Amnesie). Beachten Sie alle Signale. Es handelt sich um komplexe Zusammenhänge.
- Fragen Sie vorsichtig nach Symptomen/Beschwerden oder Gewalterfahrungen in der Vergangenheit. Das aktive Erfragen, evtl. mit dem Hinweis, dass viele Frauen Gewalt erleben, ermöglicht es der Frau, offen darüber zu reden und wirkt der Tabuisierung entgegen.
- Wird die Gewalterfahrung bestätigt, ist es wichtig, der Frau zu glauben, sie zu bestärken darüber zu reden und ihr zuzuhören. Betonen Sie, dass Gewalt kein Einzelschicksal ist, die Betroffene für die erlebte Gewalt nicht verantwortlich ist und sie ein Recht auf Unterstützung hat. Die Gewalterfahrung soll keinesfalls verharmlost werden, selbst wenn die Frau viele Jahre in der Gewaltsituation geblieben ist.
- Auch wenn die Gewalterfahrung verneint wird, ist diese nicht auszuschließen. Scham, Schuldgefühle, Amnesien oder mangelndes Vertrauen - eine betroffene Frau hat ihre Gründe, nicht über die erlittene Gewalt zu sprechen, und dies ist zu respektieren. Signalisieren Sie trotzdem weiterhin Bereitschaft und Offenheit für das Thema. Wenn Sie eine Gewaltsituation vermuten, teilen Sie der Frau Ihren Verdacht mit und geben ihr diesbezügliche Informationen, z.B. über Hilfseinrichtungen. Wenn eine Frau sich ärgert oder angegriffen fühlt, weil sie explizit nach Gewalt gefragt wird, sollte ihr klargemacht werden, dass diese direkte Frage eine Routinefrage ist, da Gewalt gegen Frauen ein weitverbreitetes gesellschaftliches Phänomen darstellt.
- Auf keinen Fall „aufdeckend“ arbeiten, wenn eine Stabilisierung nicht möglich ist. Lassen Sie sich keine Details der Gewalterfahrung erzählen. Hören Sie zu, aber lassen Sie nicht zu, dass die Betreffende Ihnen Einzelheiten des Traumas berichtet (Flashback-Gefahr). Ein kurzes Benennen, worum es geht, reicht aus. Wenn ein großes Bedürfnis besteht sich ausführlich mitzuteilen, erklären Sie der Frau, dass es einen guten und sicheren Rahmen z.B. in einer Therapie oder kontinuierlichen Beratung erfordert, um über heikle Dinge zu sprechen, weil ansonsten die Gefahr besteht, von Gefühlen und Erinnerungen überschwemmt zu werden.
- Erklären Sie, dass Symptome normale Reaktionen auf extreme Erfahrungen, wie sie Gewalt immer darstellt, sind und dass dies eine Bewältigungsstrategie des gesamten Organismus ist. Häufig bringen Frauen ihre derzeitigen Symptome nicht mit den gemachten Gewalterfahrungen in Zusammenhang. Zu verstehen, woher etwas kommt, entlastet sehr.
- Klären Sie, ob es sich um eine akute Notsituation handelt (Krankenhaus? Frauenhaus?) oder ob die Frau stabil genug ist, in ihrem Umfeld zu bleiben.
- Erkundigen Sie sich, was die Klientin tun kann, damit es ihr etwas besser geht bzw. sie sich stabilisiert. Fragen Sie nach Ressourcen: Welche Menschen in ihrem sozialen Umfeld können sie unterstützen und wie? Was tut sie gerne? Was tut ihr gut? Was hat früher schon geholfen? Kraftquellen? Darüber möglichst ausführlich und lange sprechen. Ressourcen sind ein Schlüssel zur eigenen Beruhigung und Stabilisierung.
- Machen Sie mit der Frau einen Plan für die nächsten Tage. Was sind die nächsten Schritte?
- Bieten Sie der Klientin bei Bedarf und nach Ihren Möglichkeiten weitere stabilisierende und strukturierende Gespräche an.
- Informieren Sie über weiterführende regionale Hilfsangebote, ermutigen Sie die Frau diese in Anspruch zu nehmen und vermitteln Sie weiter.
Wenn eine Frau aktuell von (sexualisierter) Gewalt bedroht ist:
Bei Bekanntwerden von sexualisierter Gewalt entsteht häufig eine Dynamik (auch in Organisationen) des Beschuldigens, Bestreitens und Bagatellisierens und alle Beteiligten geraten unter großen Handlungsdruck. Deshalb:
- Ruhe bewahren und vernünftig handeln.
- Nichts überstürzen. Kein Alleingang infolge eines massiven Handlungsdrucks, der bei Bekanntwerden von sexualisierter Gewalt immer entsteht. Tauschen Sie sich im Team aus. Vernetzen Sie sich mit einer Fachstelle.
- Unterstützung ist immer individuell und situativ – überlegen Sie gemeinsam mit der Frau und wägen Sie gemeinsam die Möglichkeiten ab, die Entscheidung liegt jedoch bei ihr. Drängen Sie die betroffene Frau nicht zu schnellem Handeln oder zu vermeintlich naheliegenden Lösungen (z.B. Anzeige, Trennung, Paartherapie). Gewaltbetroffene Frauen müssen in ihrem Selbstbestimmungsrecht und ihrer Eigenständigkeit besonders respektiert und gestärkt werden. Eine Vergewaltigung stellt eine massive Grenzüberschreitung dar. Neuerliche Grenzverletzungen sind deshalb zu vermeiden.
- Zeigen Sie Alternativen auf: Kontakt zu einer Opferschutzeinrichtung herstellen; Folder mitgeben; evtl. Polizei einschalten (polizeiliche Wegweisung, Einstweilige Verfügung). Ohne die Zustimmung der Frau sollte die Polizei nicht gerufen werden. Und auch über eine mögliche Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle, bzw. den Zeitpunkt dafür, soll die Frau selbst bestimmen.
- Auf keinen Fall – vor allem bei innerfamiliärer Gewalt - Kontakt mit dem Täter oder der Familie aufnehmen, ohne sich im Vorfeld mit einer Opferschutzeinrichtung abgesprochen zu haben. Sie könnten die Frau damit einer zusätzlichen Gefahr aussetzen. Gemeinsam überlegen, wie die Gewalt nachhaltig beendet werden kann.
Wenn sexualisierte Gewalt vermutet wird:
- Im geeigneten Setting die Vermutung aussprechen.
- Eine klare Position gegen Gewalt beziehen.
- Betonen, dass sexualisierte Gewalt kein Einzelschicksal ist und die Verantwortung bei dem/den Gewaltausübenden liegt.
- Das Recht der Frau auf Unterstützung und Hilfe betonen.
- Informationen über regionale Einrichtungen geben.
Weitere Informationen zum Thema sexualisierte Gewalt finden sich in der Informationsbroschüre des Vereins Frauen gegen Vergewaltigung. Diese richtet sich speziell an betroffene Frauen und Mädchen, aber auch an Bezugspersonen und professionelle UnterstützerInnen. Sie soll eine Hilfestellung bei der Begleitung bzw. Arbeit mit betroffenen Frauen und Mädchen bieten, um das Verständnis für „ungewöhnliche“ Verhaltensweisen und Reaktionsmuster zu fördern.
Die Broschüre ist auf der Homepage des Vereins www.frauen-gegen-vergewaltigung.at downloadbar und auch in türkischer Sprache erhältlich.
Mag.a Karin Wachter, Erziehungswissenschafterin und frauenspezifische Beraterin, psychosoziale Beraterin im Verein Frauen gegen VerGEWALTigung.
Literatur
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[1] Österreichisches Institut für Familienforschung an der Universität Wien: Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld. Österreichische Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern Wien, 2011PDF, 29 MB
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[2] BMWFJ (Hg.): Gesundheitliche Versorgung gewaltbetroffener Frauen. Ein Leitfaden für Krankenhaus und medizinische Praxis Wien, 2010PDF, 2 MB
Anleitungen zur Gesprächsführung, Beratung, Intervention sowie Formulare zur Befunderhebung, Dokumentation und Spurensicherung
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[3] EU-Projekt Join the Net II: Schulungsmaterial zu gewaltbetroffener Symptomatik (PTSD). Therapeutische Frauenberatung e.V., Göttingen, 2004
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[4] Huber, Michaela: Trauma und Folgen. Traumabehandlung Teil 1. Jungfermann Verlag, Padaborn, 2009
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[5] Hermann, Judith L.: Die Narben Der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Kindler, München, 1993
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[6] Spangenberg, Ellen: Dem Leben wieder Trauen. Traumaheilung nach sexueller Gewalt. Patmos-Verlag, Düsseldorf, 2011
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[7] Reddemann, Luise: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Pfeiffer bei Klett_Cotta, Stuttgart, 2001
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[8] Reddemann, Luise / Dehner-Rau, Cornelia: Trauma Folgen erkennen überwinden und an ihnen wachsen. Ein Übungsbuch für Körper und Seele. Trias-Verlag, Stuttgart, 2008
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[9] Breitenbach, Gaby /Requardt, Harald: Komplexsystemische Traumatherapie und Traumapädagogik. Ein Handwerksbuch für die Praxis. Asanger Verlag, Kröning, 2010