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zusammenLeben ohne Gewalt

THEMEN 2014

Vom Benennen zum Handeln

Hedwig Wölfl

Mag. Hedwig Wölfl

Expertinnenstimme

Mag.a Hedwig Wölfl

Von der Benennung sexuellen Missbrauchs zur Medialisierung sexueller Gewalt - ein kurzer historischer Abriss

In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde sexueller Missbrauch in vielen Ländern aus dem Tabu und damit aus der kollektiven Verdrängung geholt und somit thematisierbar. Bücher wie „Seelenmord“ (Ursula Wirtz, 1989) oder „Zart war ich, bitter war’s“ (Ursula Enders, 1990) beschäftigten nicht nur die Fachwelt. Selbsthilfegruppen, Kinderschutzzentren und Beratungsstellen, die sich auf die traumatherapeutische Verarbeitung der Folgen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen spezialisierten, wurden gegründet.

Vor dieser Zeit hatten sich allen voran die Psychoanalyse, aber auch andere psychotherapeutische Schulen der verschleiernden Deutung phantasiegesteuerter kindlicher Sexualität verschrieben, nachdem Freud sein anfänglicher Mut, die reale Erfahrung „sexueller Verführung durch den Vater“ und daraus entstandene seelische Schädigungen zu benennen, wieder verlassen hatte.

Erst durch Aufbrechen dieser Verklärung konnte nun sowohl in der Fachwelt als auch in der medialen Öffentlichkeit über sexuellen Missbrauch geschrieben, zunehmend geforscht und diskutiert werden.

Der Benennung „sexuellen Missbrauchs“ folgte die Medialisierung. Ein Schlagwort, das neben dem Schaudern und dem Einsetzen verschiedener Abwehrmechanismen auch Interesse hervorzurufen vermag. Sachliche Aufklärung und Information tut Not. Doch besonders dramatische und grausame Einzelfälle werden eher berichtet – eine ernsthafte Thematisierung jenseits erschütternder Fallgeschichten, manchmal auch im Sinne möglicherweise unschuldig Beschuldigter, die durch Missbrauchsvorwürfe selbst missbraucht würden, gelingt selten.

Einige Medien fördern mit detaillierten Schilderungen den Voyeurismus ihrer Leser/innen und tragen so mehr zu bestehenden Vorurteilen und Mythenbildungen bei als zur hilfreichen Erhellung des großen Dunkelfeldes. Gerade in den vergangenen Jahren wurden wir mit den Auswüchsen von Medialisierung, die Opferrechte missachten, konfrontiert.

Fakten und schwierige Beweislage

Wenn wir belegt durch wissenschaftliche Untersuchungen davon ausgehen müssen, dass jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder achte bis zehnte Bub im Laufe seiner Entwicklung zum Opfer sexueller Übergriffe wird, ist damit nicht immer sexueller Missbrauch im engeren Sinn des österreichischen Strafgesetzbuches (StGB) gemeint.

Doch auch ein sexuell konnotierter tatsächlicher oder verbaler Übergriff, der die kindliche Integrität verletzt, überschreitet Grenzen und ist nicht tolerierbar. Und trägt vor allem zu einer gesellschaftlichen Atmosphäre bei, in der persönliche Grenzen von Kindern unwidersprochen ignoriert werden können.

Im Gegensatz dazu steht die Forderung an die Kinder selbst, gesellschaftliche Grenzen einzuhalten und allen voran den Anweisungen Erwachsener jedenfalls Folge zu leisten. Wenn durch die ausbeuterische Ausnutzung der Abhängigkeitsbeziehung die „Vergeheimnisung“ missbräuchlicher Anweisungen gelingt, kann sexueller Missbrauch oft lange nicht aufgedeckt werden.

Trotz fortschreitender Enttabuisierung gibt es in Österreich noch immer eine Dunkelziffer an Fällen von Kindesmissbrauch, die in die Zehntausende geht. Dabei ist der Tatort für diese Übergriffe meist die eigene Familie sowie das nähere soziale Umfeld, wo ca. 90% der Übergriffe stattfinden.

Für Österreich ließ die möwe bereits zweimal (2009 und 2012) repräsentative Daten zum Thema sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen erheben. Hier zeigte sich, dass auch die österreichische Bevölkerung die Hauptgefährdung in der Kernfamilie und im größeren Familienband vermutet, auch wenn ein Großteil der Bevölkerung gleichzeitig den Fremdtäter als Gefahr sieht.

Dass alle geschlechtlichen Handlungen mit und vor Kindern einen Missbrauch darstellen, war 2012 für 81-91% der Österreicher/innen eindeutig, obwohl auch elterliche Nacktheit und frühe sexuelle Aufklärung teilweise schon als missbräuchlich gewertet werden. Deutlich stärker als 2009 wurden 2012 auch physische und psychische Misshandlungen als Kindesmissbrauch bezeichnet.

Auf die Frage nach der eigenen Betroffenheit haben im Jahr 2012 2% mit einem eindeutigen „Ja“ geantwortet und auch unter der Rubrik „Darüber-möchte-ich-nicht-sprechen“ (9%) können weitere Betroffene vermutet werden. Die Angaben zu eigenen Missbrauchserfahrungen liegt damit auf demselben Niveau wie 2009, nämlich bei maximal 11%. Immerhin 16% der österreichischen Bevölkerung gaben 2012 in der Umfrage an, schon einmal den Verdacht auf Missbrauch gehabt zu haben.

Im Vergleich zu 2009 geben 2012 weniger Personen an, bei Verdacht auf Kindesmissbrauch „nichts unternommen“ zu haben. Anzeigen bei der Polizei bzw. die Hinweise beim Jugendamt bei Verdacht auf Kindesmissbrauch sind gestiegen. Doch fast ein Fünftel derer, die einen Missbrauchsverdacht hatten, haben auch 2012 nach eigenen Angaben „Nichts“ unternommen und sich zu keiner konkreten Reaktion veranlasst gefühlt. Eine Zahl, die alarmiert und nach mehr Informationen und Antworten ruft!

Was tun bei Verdacht?

Ein Kind, das durch eine Person, zu der es in einer engen sozialen Beziehung steht, sexuell misshandelt und verletzt wird, wird in seinem Vertrauen zutiefst erschüttert. Dieser Verrat kann durch die Reaktionen der Umwelt wiederholt und verstärkt werden, wenn das Kind bei seinen Versuchen, sich mitzuteilen und sich der sexuellen Gewalt zu entziehen, keinen Glauben und keine Unterstützung findet. Daher:

  • Glauben Sie dem Kind.
  • Bleiben Sie ruhig und nehmen Sie sich Zeit für das Kind.
  • Versichern Sie dem Kind, dass es richtig war, über die sexualisierte Gewalt zu reden und setzen Sie das Kind (zB. durch Nachfragen) nicht unter Druck.
  • Bauen Sie Vertrauen auf und machen Sie keine Versprechungen, die Sie nicht einhalten können.
  • Holen Sie sich selbst professionelle fachliche Unterstützung (zB in einem Kinderschutzzentrum) und handeln Sie nicht vorschnell.
  • Tragen Sie Sorge, dass das Kind adäquate Behandlung bekommt.

Das Trauma und die Folgen oder der Ausbruch aus der Opferrolle

Der Begriff „sexualisierte Gewalt“ präzisiert das Unrechtgeschehen, indem er das Opfer nicht als „sexuell missbraucht“ stigmatisiert und so in der Opferrolle festschreibt, sondern die strukturellen Macht- und Gewaltaspekte, die mittels sexueller Handlungen durchgesetzt werden, mit benennt.

Die Vielzahl sehr verschiedener und kausal uneindeutiger, kurz- und langfristiger Folgen und Schädigungen durch sexuelle Gewalterfahrungen im Kindesalter reicht von Angstzuständen, Gefühlen der Wertlosigkeit und Schuld, über Depressionen, psychosomatische Beschwerden und sozialen Rückzug bis zu Schwierigkeiten mit der eigenen Sexualität und Paarbeziehung im Erwachsenenalter.

Die Schädigungen sind nach Einschätzung der meisten Autor/innen umso schwerwiegender:

  • je größer der Altersunterschied zwischen Täter und Opfer
  • je größer die verwandtschaftliche Nähe
  • je länger die sexuelle Gewalt andauert
  • je jünger das Kind bei Beginn der sexuellen Gewalt
  • je mehr Gewalt angedroht oder angewendet wird
  • je vollständiger die Geheimhaltung
  • je weniger sonstige schützende Vertrauensbeziehungen bestehen.

Wenn das Kind durch sexuelle Gewaltausübung auf kognitiver, emotionaler und körperlicher (im speziellen auch sexueller) Ebene verwirrt wird, kann es das Erlebte nicht einordnen und benennen und sich umso schwerer über das was ohnehin mit einem Schweigeverbot belegt wurde mitteilen.

Das Zurechtrücken der Verantwortung für die erlebte sexuelle Gewalt ist wesentlich für die weitere Verarbeitung und Heilung: Die Verantwortung für die ausgeübte Gewalt liegt ausschließlich beim Erwachsenen und unter keinen Umständen beim Kind!

Erstes Ziel jeder Hilfestellung muss die Gewährleistung des Kinderschutzes und damit die körperliche und meist vor allem psychische Stabilisierung des Kindes oder Jugendlichen sein. Nach einer ersten Krisenintervention im Rahmen der Aufdeckung von sexuellem Missbrauch, kann Prozessbegleitung während der oft psychisch sehr belastenden Zeit zwischen Anzeige und Hauptverfahren unterstützen. Beziehungsweise geht es nicht auch im Anschluss an die Krisenintervention darum, zu klären, ob im Interesse des Kindeswohles überhaupt eine Anzeige/Gefährdungsmeldung erfolgen soll?

Verschiedene psychotherapeutische Ansätze helfen bei einer Distanzierung von Erinnerungen an das traumatisierende Geschehen und damit zusammenhängenden Gedanken, sowie bei der Heilung seelischer Wunden, die durch die Ereignisse entstanden. Resiliente Anteile können entdeckt und damit die oft sehr vielfältigen Ressourcen des Kindes lebendig und nutzbar gemacht werden.

Kinderrechte als Basis und Wegweiser in der Kinderschutzarbeit

Kinderschutzarbeit impliziert eine klare Verurteilung von Gewalt und bedeutet auch, den von sexueller Gewalt Betroffenen Wegweiser für ein Leben ohne Gewalt zu sein.

Mit den Art. 19 und Art. 34 der Kinderrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, Kinder und Jugendliche vor Gewalt, Misshandlung, Vernachlässigung, sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch zu schützen.

Dazu gehören neben inner- und zwischenstaatlichen Maßnahmen auch internationale Zusammenarbeit sowie konkrete Vorgangweisen zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung, Behandlung und Nachbetreuung.

Die Umsetzung aller Kinderrechte – auch als Verfassungsrechte – bleibt ein zentrales Ziel der Kinderschutzarbeit.

Die Utopie einer gewaltfreien Welt oder Selbstschutz und gesellschaftliche Verantwortung – ein Plädoyer

Wir müssen weiter über gesellschaftliche Tabus und die Normalität des Wegsehens diskutieren, denn Gewalt an Kindern passiert nach wie vor. Neben uns. Und durch uns. Missbrauch ist kein Einzelphänomen und kommt in allen Teilen unserer Gesellschaft vor.

Sexuelle Gewalt findet täglich statt. Sie beginnt beim Erzählen sexistischer Witze, wird fortgesetzt durch Sextourismus und erreicht ein zerstörerisches Ausmaß bei innerfamiliärer sexueller Gewalt. Es muss klar und nicht nur gesellschaftlicher Konsens, sondern gelebte Praxis werden, und zwar von uns allen als Mitglieder der Zivilgesellschaft, dass Gewaltanwendung inakzeptabel ist.

Mein Wunsch als Vertreterin von Kinderschutzeinrichtungen ist es, dass das Thema sexuelle Gewalt in den Medien bleibt und zwar abseits auflagensteigernder Anlassberichterstattung. Damit in der Gesellschaft ein Common Sense entsteht, dass keine Form des Ausnützens eines Autoritätsverhältnisses und keine Form von sexueller Nötigung akzeptiert wird. Es braucht echte Prävention: etwa durch Kampagnen oder wiederholte Workshops in Schulen bis hin zur Sensibilisierung der Medienberichterstattung.

Die breite öffentliche Aufklärung und Diskussion könnte – mehr als es eine umfassende Anzeigenverpflichtung je leisten kann - auch bewirken, dass sich Betroffene oder Sich-bedroht-Fühlende früher an Hilfsorganisationen und spezielle Helplines wenden, damit Gewalt vermieden oder so rasch wie möglich beendet werden kann.

Mag.a Hedwig Wölfl, Klinische Psychologin, ehem. fachliche Leiterin der möwe Kinderschutzzentren