THEMEN 2014
Demenzfreundlich statt gewALTig überfordert!

Mag.a. Petra Jenewein
Expertinnenstimme
Mag.a Petra Jenewein
Kann Demenzberatung Gewalt hintanhalten?
"Entlastung, Entlastung und noch einmal Entlastung, damit es gar nicht zu einer Überforderung kommen kann ist die beste und wirksamste Gewaltprävention", so Caritas Direktor Georg Schärmer in seinem Begrüßungsreferat, am 4. Juni 2014, bei der Fachtagung "Demenzfreundlich statt gewALTig überfordert!" in Innsbruck. Nach seiner Einschätzung brauche es auch "gewaltige" Anstrengungen, um das Pflege und Betreuungswesen besser auszustatten.
Im Bundesland Tirol liegt die geschätzte Zahl von Demenzkranken im Jahr 2012 bei etwa 10.000 Personen, im Jahr 2050 liegt die prognostizierte Anzahl etwa bei 25.000 betroffenen Menschen.[1] Nimmt man nur jeweils einen pflegenden Angehörigen pro einem Menschen mit Demenz an, haben wir bereits jetzt mindestens 10 000 unterstützende, betreuende und pflegende Angehörige in Tirol. Tendenz ebenfalls steigend. Pflegende Angehörige stellen somit nicht nur eine personelle, sondern auch eine immense finanzielle Ressource für das Pflegesystem in Tirol dar.
Trotz dieser Vorhersagen haben sich die Pflege- und Versorgungsforschung, ebenso wie die Sozial- und Gesundheitspolitik in der Vergangenheit vorrangig auf die Versorgungsoptimierung der Pflegebedürftigen konzentriert. Der Erhalt und die Stärkung des familiären Pflege-Hilfssystem sind bisher kaum in den Focus des Interesses gerückt. Dies ist umso erstaunlicher, weil seit längerem bekannt ist, dass gerade pflegende Angehörige besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind und dazu neigen, mögliche gesundheitsbezogene Warnsignale zu ignorieren.[3]
Angesichts dieser enormen Herausforderungen hat die Caritas bereits 2008 das Demenz-Servicezentrum ins Leben gerufen. Eine der Hauptsäulen nimmt dabei die Beratungsschiene ein. Das übergeordnete Ziel des Caritas Demenz-Servicezentrums ist die Entlastung von pflegenden und betreuenden Angehörigen.
Der Weg vieler Angehöriger, weg von den Belastungen, hin zur Entlastung, ist meist mit vielen Hürden gepflastert. ExpertInnen beklagen des Öfteren, dass Entlastungsangebote zu spät oder zu wenig in Anspruch genommen werden. Befragungen von Angehörigen von Menschen mit Demenz zeigen allerdings einen hohen ungedeckten Entlastungsbedarf. Die geringe Nutzung der Entlastungsangebote wird einerseits auf Wissensdefizite der pflegenden Angehörigen oder auch Angst vor Stigmatisierung bei Inanspruchnahme von Angeboten usw. und andererseits auf hinderliche strukturelle Rahmenbedingungen zurückgeführt (z.B. lange Wartezeiten, unflexible Öffnungszeiten, unzureichende Öffentlichkeitsarbeit usw.)[2]. Diese Erkenntnisse aus Deutschland haben meines Erachtens auch für Österreich und Tirol Gültigkeit.
Faktoren gelingender Demenzberatung
Eine gute Vernetzung zwischen den einzelnen Anbietern von Betreuung von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen ist einer der Grundbausteine einer gelingenden Demenzberatung. Ohne gute Empfehlungen für die Demenzberatung im Caritas Demenz-Servicezentrum würden vermutlich wenige Angehörige den Weg in unsere Beratung finden. Auch die persönliche Weiterempfehlung von Angehörigen, die bereits eine Beratung in Anspruch genommen haben, ist entscheidend.
Angehörigen ist mit einer wissenszentrierten und pflegetechnischen Beratung nur begrenzt und in bestimmten Situationen geholfen. Will man pflegende Angehörige umfassend unterstützen, muss auch auf die psychosozialen Bedürfnisse eingegangen werden. Bekannt ist, dass häusliche Pflege für pflegende Angehörige häufig mit objektiv und subjektiv erlebten Belastungssymptomen und –effekten einhergeht. Neu ist, dass die Übertragung eines ressourcenorientierten Ansatzes auf die Beratung und Unterstützung einen wirksamen Zugang zu den Bedürfnissen pflegender Angehöriger öffnen kann.
Die Übernahme einer familiären Pflege geht mit enormen Veränderungen im normalen Lebensalltag einher. Pflegende Angehörige gehen mit dieser neuen, ungewohnten Situation unterschiedlich um. Sie erleben vermeintlich ähnliche Pflegesituationen einmal mehr und einmal weniger belastend. Um die je nach Familie variierenden Ressourcen strukturiert erfassen zu können, entwickelten deutsche WissenschafterInnen unter der Federführung von Claudia Mischke ein Assessmentinstrument. Es eröffnet die Chance mehr über die individuellen Ressourcen und ihre spezifische Bedeutung für pflegende Angehörige zu erfahren.[3]
Bei diesem Perspektivenwechsel wird auch davon ausgegangen, dass betreuende Angehörige an der neuen Herausforderung wachsen, ihr Ressourcenreservoir und so ihre Widerstandsfähigkeit und Gesundheit ausbauen können. Eine Tatsache, die mir in der Demenzberatung im Rahmen des Caritas Demenz-Servicezentrum bereits von vielen Angehörigen bestätigt wurde.
Das von Mischke entwickelte Instrument zählt 43 isolierte Ressourcen. Dazu gehören u.a. materielle Ressourcen (z.B. gesicherter finanzieller Ruhestand, Transportmöglichkeiten…), Lebensbedingungen und – umstände als Ressource (z.B. gute Beziehung zu Kindern, Verständnis von Vorgesetzten…), persönliche Ressourcen (z.B. positive Lebenseinstellung, Sinn für Humor, Geduld und Ausdauer…) und Energieressourcen (z.B. soziale Beziehungen, Engagement in der Kirche…). Es ist sowohl im Beratungsalltag als diagnostisches Instrument im Erstkontakt einsetzbar, wie auch im Pflegeverlauf. Zusätzlich dient es als geeignetes Frühwarn system.[4] Im Hinblick auf Gewaltprävention bedeutet dies hierum wieder: Schwindende Ressourcen (Verlustspirale) bedeuten einen Anstieg der Wahrscheinlichkeit zu einer gewalttätigen Handlung.
Angebot des Caritas Demenz-Servicezentrum
Die Demenzberatung für Angehörige und Menschen mit Demenz, Fachpersonal bzw. Interessierten erfolgt persönlich, telefonisch und bei Bedarf auch per E-Mail in Innsbruck in der Caritas Zentrale (Heiliggeiststraße 16) oder in Form von zugehender Beratung zu Hause. Alle Angebote sind kostenlos und vertraulich.
Meist geht es um Aufklärung zum Krankheitsbild Demenz, um Unterstützung bei der Diagnosefindung und um eine ressourcen- und lösungsorientierte Prozessberatung für betroffene Familien. Ebenso gefragt sind Vermittlung von bedürfnisgerechter, professioneller Hilfe hinsichtlich Pflege und Betreuung und Sozialberatung (Pflegegeld, Sachwalterschaft usw.). Ganz häufig sind Fragen zum Umgang mit Menschen mit Demenz (wie z.B. bei herausfordernden Verhaltensweisen, wie Herumwandern, aggressivem Verhalten).
Einblicke in die Erlebniswelt von Menschen mit Demenz sind notwendig, Formen der Kommunikation, die sich bewährt haben (z.B. Validation), werden empfohlen.
Ein wichtiger Aspekt ist die Öffnung eines Raumes, um über sehr persönliche Angelegenheiten sprechen zu können, die im Laufe der Erkrankung und des Zusammenlebens mit Menschen mit Demenz auftauchen: Belastungsgrenzen erkennen und annehmen, eine Zuwendung zu eigenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen ermöglichen. Eine Demenzberatung kann man auch als ein Case-Management mit einer starken psychosozialen Färbung verstehen.
Schwerpunkt Fortbildungsangebote
PURFAM (Potentiale und Risiken in der familialen Pflege alter Menschen) etwa wendet sich mit einem eigens entwickelten Fortbildungsangebot an Mitarbeitende von ambulanten Diensten, die dazu befähigt werden sollen, problematische Pflegesituationen frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls auf Entlastungs-, Beratungs- und Edukationsbedarf bei pflegenden Angehörigen präventiv einzuwirken.[5]
Im Rahmen der Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger demenziell Erkrankter (LEANDER) konnte mithilfe eines an einer großen Stichprobe validierten multidimensionalen Fragebogens zur pflegebedingten Belastung nachgewiesen werden, dass die Belastung eines Angehörigen (z.B. durch die Vernachlässigung eigener Lebensbereiche oder mangelnde Unterstützung durch das soziale Umfeld) für die Entstehung problematischer Pflegesituationen ein besonderes Risiko darstellen.[zit. in 5]
Im Rahmen des INTERREG Projektes "Gewalt im Alter - Violenza nella terza età" wurden in Nord- und Südtirol über 1000 Menschen befragt (professionelle Pflegekräfte, pflegende Angehörige und AllgemeinmedizinerInnen). Dabei zeigten sich einige offensichtliche objektive Belastungsfaktoren:
- Hoher Betreuungsaufwand und Zeitdruck bei professionellen Pflegekräften,
- soziale Isolation,
- Überlastung und mangelnde Kompetenz mit dem psychischen Druck oder krankheitsbedingter Verhaltensveränderung von Pflegebedürftigen.
Aber auch subjektive Risikofaktoren wurden sichtbar:
- falsche Berufswahl oder persönliche Probleme der Pflegekräfte,
- problematische Familiengeschichten oder ein übertriebenes Pflichtgefühl der pflegenden Angehörigen.
Ausbildung und Wissen sind vor allem bei pflegenden Angehörigen gering. Dennoch zeigt sich erfreulicherweise, dass gewaltsames Verhalten eher die Ausnahme bildet, und sich vor allem verbal bzw. auf der Beziehungsebene – durch Verzögerung und Verweigerung bestimmter Hilfeleistungen etwa – manifestiert, nicht aber auf der physischen.[6]
Resümee
Aus meiner Sicht gibt es "den" pflegenden Angehörigen nicht. Jede Familie hat andere Bedürfnisse. Deswegen muss auch das Entlastungsangebot vielfältig sein (Demenzberatung, Schulungsprogramme für Angehörige, Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema, Bildungsangebote auf breiter Ebene…) und individuell abgestimmt werden.
Demenzberatung ist ein unverzichtbares Angebot, dass zweifelsfrei zur Gewaltprävention in Familien mit einem Menschen mit Demenz beitragen kann. Demenzberatung muss für "betroffene" Familien leicht zugänglich werden. Keine Demenzdiagnose ohne den Hinweis auf die Möglichkeit zur Demenzberatung ist ein klar formuliertes Ziel. Beratungsangebote müssen selbstverständlich werden, ähnlich der Psychoonkologie. In der Tiroler Gesundheits- und Sozialpolitik ist ein klares Bekenntnis zur Unterstützung von betreuenden Angehörigen von Menschen mit Demenz unverzichtbar.
Entlastung, Entlastung, Entlastung! Bunt und vielfältig muss sie werden und erst wenn es ein Zuviel an Entlastungsangeboten für pflegende Angehörige und eine laute Lobby für diese Bevölkerungsgruppe gibt, erst dann ist es genug. Demenz braucht Normalität, das Angebot einer Demenzberatung eine unumstößliche Selbstverständlichkeit.
Mag.a Petra Jenewein ist Gerontopsychologin, Klinische- und Gesundheitspsychologin und tätig bei Caritas Tirol im Demenz Servicezentrum: Demenzberatung Universitätsklinik Innsbruck Neuropsychodiagnostik
Literatur
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[1] Amt der Tiroler Landesregierung. Innsbruck: Strukturplan Pflege 2012-2022. 2012PDF
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[2] Schilder, Michael und Florian, Susann: Die Entlastung pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz durch niedrigschwellige Betreuungsgruppen aus der Sicht der Nutzer und der Anbieter. In: Zeitschrift: Pflege & Gesellschaft, Ausgabe #3, Juventa Verlag, 2012
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[3] Mischke, Claudia: Ressourcen pflegender Angehöriger - eine Forschungslücke? Gesundheitssoziologische und empirische Annäherung an ein bislang vernachlässigtes Forschungsfeld. In: Zeitschrift: Pflege - Ausgabe 25/#3, Juni 2012, Verlag Hans Huber, 2012
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[4] Mischke, Claudia: Ressourcen von pflegenden Angehörigen. Entwicklung und Testung eines Assessmentinstruments. Hpsmedia, 2012
Weitere Informationen -
[5] Heidenblut S., Schacke C., Zank S.: Früherkennung und Prävention von Misshandlung und Vernachlässigung in der familialen Pflege. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie - Ausgabe 46/#5 (S. 431-440), Springer Verlag, 2012
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[6] Atz, Hermann: Bedarfsanalyse im Rahmen des Interreg Projektes "Gewalt im Alter- Violenza nelle terza età". 2014PDF