THEMEN 2014
Langjährige Gewalterfahrungen älterer Klientinnen - Abhängigkeit und Scham

Cäcilia König
Expertinnenstimme
Cäcilia König und Melanie Masnetz
Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? – Sich nicht mehr vor sich selber schämen.
Friedrich Nietzsche
Der Begriff "ältere Frauen" bezieht sich in unserer Arbeit in der ifs FrauennotWohnung auf die Altersgruppe der Klientinnen ab 50 Jahren.
In der Arbeit mit älteren Frauen ist ein sensibler Umgang mit dem Thema Gewalt von zentraler Bedeutung. Bei Anfragen dieser Altersgruppe stoßen wir auf die Herausforderung, die betroffenen Frauen zu motivieren Beratung und Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Dies setzt voraus, dass im Vorfeld ein Klima des Vertrauens entsteht.

Melanie Masnetz
Neben der Tatsache, dass Gewalt in der Familie besonders bei dieser Altersgruppe zur Privatsache erklärt wird, dauert es länger, bis für die älteren Gewaltopfer (nicht zuletzt aufgrund der langen Ehe) eine Trennung vorstellbar ist und sich somit aus der Gewaltbeziehung zu lösen.
Auch ältere Frauen sind von sämtlichen Gewaltformen betroffen. Bewusstseinsbildung ist in der Beratung oft entscheidend. Es geht darum, dass unter Gewalt nicht nur körperliche Misshandlungen zu verstehen sind, sondern dass Gewaltausübung auch in Verhaltensweisen besteht, die darauf abzielen, die betroffene Frau zu unterdrücken, zu beherrschen und zu kontrollieren.
Ökonomische Abhängigkeit ist stark mit der Angst verbunden, nach einer Trennung/Scheidung in die Armut abzurutschen. Viele Frauen sind auf die Zahlung von Ehegattinnen-Unterhalt durch ihre Ehemänner angewiesen, um sich ihre Existenz zu sichern.
Folgende Themen erschweren die Trennung vom gewalttätigen Ehemann:
- fehlende Erwerbstätigkeit während der Ehe, was keine oder nur geringe Pensions-versicherungszeiten und somit geringen Pensionsanspruch mit sich bringt.
- Vermögen, das während der Ehe gemeinsam erwirtschaftete wurde, ist bereits an die erwachsenen Kinder weitergegeben worden.
Hinzu kommt, dass ältere Frauen wenig Bescheid über ihre Rechte wissen. Eine gemeinsame Vorbereitung der verschiedenen Behördenwege, sowie der Zugang zu (rechtlichen) Informationen und schlussendlich bei Bedarf die Begleitung zu Terminen, sind wesentlich in der Arbeit mit älteren Klientinnen. Sehr häufig sieht diese Altersgruppe Ämter und Behörden als hohe Autorität, und die Hemmschwelle vor einem Behördengang ist dadurch groß. Auch das Recht, finanzielle Hilfen in Anspruch zu nehmen, ist bei älteren Klientinnen häufig mit Scham behaftet.
Viele Frauen fühlen sich schuldig, wenn sie eine Trennung/Scheidung oder Strafanzeige vorantreiben. Sie sind sehr empfänglich für Vorwürfe, mit denen sie in dieser Lebensphase durch den Gewalttäter und mit unter auch von den Kindern konfrontiert werden. Vorhaltungen wie zum Beispiel: "Was sollen die Leute von uns denken? Wie kannst du nur so egoistisch sein? Du wurdest einer Gehirnwäsche unterzogen, all das kommt gar nicht von dir!" führen oft zu Selbstzweifel und/oder die Betroffenen fallen wieder in ihre gewohnten Verhaltensmuster zurück – mitunter wird sogar eine Rückkehr zum Täter in Betracht gezogen. Oft scheint die Rückkehr einfacher, als den neu beschrittenen Weg weiter zu gehen, mit allen Konsequenzen.
Auslöser und Auswirkungen von Scham sind vielfältig
Stephan Marks unterscheidet in seinem Buch "SCHAM – die tabuisierte Emotion" folgende sechs Formen von Scham, die uns in unserer Arbeit mit Klientinnen immer wieder begegnen:
- Da sind einmal die Schamgefühle, die dadurch ausgelöst werden, dass man den herrschenden Erwartungen und Normen nicht entspricht. Dies kann sich u. a. auf persönliche Eigenschaften oder Fähigkeiten beziehen (z. B. wenn eine Frau sich dafür schämt, Analphabetin zu sein oder der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein, keine Ausbildung zu haben, etc.). Diese Form von Scham bezeichnet Stephan Marks als Anpassungs-Scham; sie bezieht sich auf die eigene Person.
- Im Unterschied dazu bezieht sich die Gruppen-Scham auf andere Personen, etwa wenn sich eine Klientin für ihren gewalttätigen Ehemann schämt.
- Auch die mitgefühlte oder empathische Scham bezieht sich auf andere Personen: Wir fühlen mit, wenn wir Zeuge der Beschämung eines Mitmenschen sind. Diese Form von Scham kann Klientinnen betreffen, wenn z. B. ein Täter nach einem Übergriff Reue bekennt und sich für seine Tat entschuldigt.
- Eine weitere Ausprägung ist die Schamhaftigkeit oder Intimitäts-Scham. Sie hat lt. Stephan Marks die Aufgabe, die eigene Privatsphäre gegenüber anderen zu schützen (z. B. wird vor dem sozialen Umfeld die Fassade einer intakten Ehe/Familie aufrecht zu erhalten und somit die Gewalt nicht öffentlich gemacht).
- Wenn die Privatsphäre in traumatischer Weise durch andere Menschen verletzt wurde (etwa bei Missbrauch oder Vergewaltigung), bleibt bei den Opfern charakteristischerweise traumatische Scham zurück.
- Diese Schamgefühle sind verschieden von den Gefühlen eines Täters, der sich für sein Handeln schämt: Diese nennt Stephan Marks Gewissens-Scham.
Die verschiedenen Ausprägungen der oben genannten Formen von Scham beeinflussen in unterschiedlicher Weise die (Beziehungs-)Arbeit mit älteren Klientinnen. Scham hat Einfluss auf die Offenheit von Frauen, die von Gewalt betroffen sind:
- die Scham, so lange nichts gegen die erlebte Gewalt unternommen zu haben.
- sich nicht zur Wehr gesetzt zu haben.
- so lange an der Beziehung festgehalten zu haben.
- so lange Opfer gewesen zu sein und die erlebten Demütigungen ausgehalten zu haben.
- das Gefühl, nichts wert zu sein.
All das macht es Frauen oft so schwer, über das Erlebte zu sprechen. Selbstzweifel und die Frage: "Was denkt mein Gegenüber jetzt von mir?" verhindern oft, eine längerfristige nachhaltige Unterstützung bzw. Beratung in Anspruch zu nehmen.
Wird eine Trennung/Scheidung möglich, werden weitere Themen aktuell
Die Gruppe der älteren weiblichen Gewaltopfer benötigt besonders intensive Unterstützung, da deren Perspektiven erfahrungsgemäß eingeschränkter sind als die jüngerer Frauen. Eine besondere Herausforderung stellen Klientinnen dar, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes intensive ärztliche Betreuung benötigen.
Zusätzliche Unterstützungsangebote sind primär im Bereich Wohnen notwendig. Es mangelt an ambulanten und (teil-)stationären Angeboten, geeigneten und leistbaren Wohnformen, wenn Schutz und Sicherheit kein Thema (mehr) sind, aber dennoch intensive sozialarbeiterische Unter-stützung benötigt wird.
Oft ist die Angst vor Veränderung größer, als der Leidensdruck in der Gewaltbeziehung:
Für viele ältere Klientinnen sind die Möglichkeiten der Lebensgestaltung sehr eingeschränkt. Denn die meisten haben keinen Lebensentwurf außerhalb von Ehe und Familie. Daher stellt die Neuorientierung eine Überforderung dar, die kaum ohne Unterstützung gelingt.
Wenn sich die erwachsenen Kinder eine Trennung nicht vorstellen können, sind unsere Klientinnen zusätzlichem Druck ausgesetzt – vor allem dann, wenn sie eine Anzeige gemacht haben und eine Strafverhandlung gegen den Vater der Kinder ansteht. Viele Frauen scheuen sich deshalb, gerichtlich gegen den Ehemann vorzugehen. Ein angekündigter Beziehungsabbruch der Kinder wird als bedrohlich erlebt, und ist mit der Angst vor Isolation und Einsamkeit verbunden. Die Angst vor Vereinsamung wird noch verstärkt, weil mit einer Trennung/Scheidung auch ein Wohnortwechsel unvermeidlich ist.
Neben der Tatsache, dass die Familie wegzubrechen scheint, bricht oft auch das soziale Netzwerk außerhalb der Familie (Verwandte, Freunde, Nachbarn) weg. Nicht die Frau wird als Opfer anerkannt, sondern der verlassene Ehemann, die verlassene Familie – sie werden bedauert. Gewachsene Beziehungen außerhalb der Familie werden abgebrochen, Vorwürfe und Unverständnis richten sich gegen die Frau, die es gewagt hat, in höherem Alter "auszubrechen", um die verbleibende Zeit gewaltfrei zu leben.
Cäcilia König und Melanie Masnetz von der ifs FrauennotWohnung (Vorarlberg)
Literatur
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[1] Stephan Marks: "SCHAM die tabuisierte Emotion" Patmos Verlag GmbH & Co KG, Düsseldorf, 2007
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