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THEMEN 2014

Aufdeckung von sexuellem Missbrauch bei Burschen

Foto Elli Scambor

Elli Scambor

ExpertInnenstimmen

Elli Scambor mit Bernard Könnecke, Ralf Puchert, Thomas Viola Rieske, Ulla Wittenzellner und Thomas Schlingmann

Diskussionen um sexuellen Missbrauch in öffentlichen wie privaten Institutionen machen immer wieder sichtbar, dass Betroffene von sexuellem Missbrauch meistens große Schwierigkeiten haben, jemandem ihre Erlebnisse anzuvertrauen. Vielen gelingt es nie.

Für männliche Betroffene gilt dies in besonderer Weise:

  • Einerseits richten sich viele Hilfsangebote und Beratungsstellen zum sexuellen Missbrauch explizit oder implizit an weibliche Betroffene,
  • andererseits stehen Männlichkeitsideale dem Offenlegen des Opferseins, insbesondere eines Opfers von sexueller Gewalt, entgegen.

Aufgrund von männlichem Rollenverhalten und externen Erwartungen an diese Rolle ist der ohnehin schon schwierige Weg zur Aufdeckung für Burschen und junge Männer von potenziell anderen Widersprüchen und Barrieren geprägt als dies für Mädchen und junge Frauen der Fall ist.

Status Quo

Den Ergebnissen polizeilicher Kriminalstatistiken in Deutschland zufolge handelt es sich bei knapp einem Viertel kindlicher Opfer von sexuellem Missbrauch um Burschen (vgl. Bange 2007:33).

Für die Aufdeckung von sexualisierter Gewalt bei Burschen kommen internationale Studien zu dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte bis zwei Drittel aller Fälle von sexuellem Missbrauch entweder nicht oder erst im Erwachsenenalter aufgedeckt werden (vgl. Mosser, 2009).

Da die meisten Aufdeckungen innerhalb des privaten Bereichs geschehen, bleiben die Information über den sexuellen Missbrauch oft im Dunkeln. Nur wenige Missbrauchsfälle werden institutionell behandelt, etwa durch Strafverfolgung, Jugendämter oder medizinisch-psychologische Dienste – die institutionell sichtbaren Fälle bilden dabei nur die Spitze des Eisbergs – darunter liegt ein Dunkelfeld der sexualisierten Gewalt (Mosser, 2009: 3).

Es ist davon auszugehen, dass ein sexueller Missbrauch für einen Burschen neben der ursächlichen Traumatisierung auch geschlechtsspezifische Bewältigungsprobleme mit sich bringt, die sowohl im Vergleich mit Burschen ohne Missbrauchserfahrungen als auch im Vergleich zu Mädchen mit Missbrauchserfahrungen ins Gewicht fallen. Am deutlichsten wird dies in einer australischen Studie, die anhand der Daten von 2500 Schülerinnen und Schülern eine 15 mal höhere Suizidrate bei Burschen feststellten, denen ein Missbrauch widerfahren ist, als bei ihren Altersgenossen ohne ein solches Widerfahrnis (vgl. Martin, et al., 2005).

Hershkowitz et al. (2005) konnten auf Basis forensischer Interviews mit Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch oder körperlicher Misshandlung zwischen 1998 und 2005 in Israel nachweisen, dass die Offenlegungsrate bei Burschen zwischen 11 und 14 Jahren deutlich geringer ist als jene gleichaltriger Mädchen, bei jüngeren Kindern zeigten sich hingegen keine Geschlechterunterschiede. Sexueller Missbrauch und das individuelle, aber auch das gesellschaftlich erwartete Umgehen damit müssen vor dem Hintergrund aktueller geschlechtlicher Sozialisationsbedingungen analysiert werden.

Aufdeckungsprozesse von Männern, die als Burschen oder Jugendliche sexuellen Missbrauch erlebt haben, sind von einer doppelten Mauer des Schweigens (vgl. Bange, 2007) gekennzeichnet. Burschen schweigen, aber auch Erwachsene schweigen. Dabei werden Wahrnehmungsblockaden bei beiden Gruppen wirksam. Jeder zweite missbrauchte Bursche redet nicht über den sexuellen Übergriff.

Gründe für das Schweigen sind einerseits Täterstrategien, aber auch spezifische Bedingungen, die es Burschen und ihrer Umwelt erschweren, sie als Opfer sexueller Gewalt zu erkennen. Dazu gehören ein Burschen- und Männerbild, das Schwäche nicht zulässt, die Angst, mit Homosexualität in Verbindung gebracht zu werden, die Assoziation der Begriffe "Vergewaltigung" und "sexueller Missbrauch" mit einer Frau als Opfer und einem Mann als Täter.

Wer oder was erschwert die Aufdeckung von sexueller Gewalt bei Burschen?

Mosser (2009) verweist auf Basis einer qualitativen Studie mit Burschen und Angehörigen, denen im Prozess der Aufdeckung eine wichtige Rolle zukommt darauf, dass spezielle Problematiken im Zusammenhang mit der Aufdeckung sexuellen Missbrauchs bei Burschen v.a. in der Adoleszenz manifest werden, einer Phase, in welcher bereits konkrete Vorstellungen über die (Nicht-)Erfüllung männlicher Sozialisationsanforderungen vorherrschen, gleichzeitig aber i.d.R. "Möglichkeiten zur Bewältigung nicht-konkordanter Erfahrungen" (S.43) noch nicht etabliert sind. Daraus resultiert, dass angesichts der antizipierten sozialen Reaktionen das Schweigen die vorerst bessere Alternative darstellen kann. Die antizipierten sozialen Reaktionen umfassen dabei Ängste vor "Unmännlichkeit", vor zugeschriebener Homosexualität und/oder zugeschriebener potentieller Täterschaft sowie die Angst davor, dass der Bericht über den widerfahrenen sexuellen Missbrauch nicht ernst genommen wird bzw. nicht geglaubt wird (vgl. Mosser, 2009).

Das vielfache Schweigen von Burschen begründet sich u.a. in ihrer besonderen Situation: sexueller Missbrauch gegen Burschen wird teilweise immer noch tabuisiert und dadurch ist es weder für die Burschen selbst noch für ihre Umwelt denkbar, dass Burschen Betroffene sexualisierter Gewalt werden können. Erschwert wird die Situation, wenn der Missbrauch von Frauen begangen wurde, weil es vielfach für unmöglich gehalten wird, dass Frauen sexuell missbrauchen. Eine entsprechende Studie (Hinz, 2001) zeigte, dass ambivalente oder klar sexuell übergriffige Handlungen unterschiedlich beurteilt werden in Abhängigkeit vom Geschlecht der handelnden Person. Auch scheinen die Reaktionen von Professionellen nicht immer angemessen, sei es in Ermangelung eines adäquaten therapeutischen Angebots, aufgrund fehlender Ressourcen oder eigener Gewalterfahrungen, die die "Sicht verstellen" (vgl. Bange, 2007). Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass männliche Fachkräfte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um nicht dem Generalverdacht‚ männlicher Täter begegnen zu müssen (vgl. Deutsches Jugendinstitut, 2012).

Zusätzlich erhöhen Drohungen seitens des Täters/der Täterin den Geheimhaltungsdruck der männlichen Opfer (vgl. Spitzock von Brisinski, 2014). Zumeist wird das aus Lügen, Bedrohungen und Erpressungen gesponnene Netz zur Geheimhaltung bereits im Vorfeld getestet (hält der Junge "dicht", wenn er Zigaretten bekommt?). Ein dicht gesponnenes Netz resultiert letztlich in einer Verunsicherung der eigenen Gefühle und Wahrnehmungen, sodass die Burschen am Ende nicht mehr zwischen Lüge und Realität unterscheiden können (vgl. Spitzock von Brisinski, 2014).

Mosser (2009) fasst auf Basis von Literaturanalysen besonders günstige bzw. besonders ungünstige Konstellationen für die Aufdeckungsbereitschaft bei Burschen zusammen:

"Über relativ günstige Bedingungen im Sinne einer raschen Aufdeckung verfügt ein Junge dann, wenn er sich noch im Vorschulalter befindet, wenn er außerhalb der Familie von einem erwachsenen Mann sexuell missbraucht wurde und sich kaum bewusst ist über mögliche soziale Folgen der Aufdeckung. Demgegenüber ist mit einer langen Aufdeckungslatenz zu rechnen, wenn sich der betroffene Junge in der frühen Adoleszenz befindet und das Erleben des sexuellen Missbrauchs als massive Gefährdung seiner sich gerade entwickelnden erwachsenen Männlichkeit empfindet. Dem entsprechend fürchtet er nichts stärker als die sozialen Reaktionen auf das Bekanntwerden der sexuellen Handlungen." (Mosser, 2009: 46f.)

Wer oder was fördert die Aufdeckung von sexueller Gewalt bei Burschen?

Seit etwas mehr als einem Jahr beschäftigt sich das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (D) in Auftrag gegebene Forschung- und Praxisprojekt "Aufdeckung und Prävention von sexualisierter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche" mit der Frage, was männlichen Betroffenen von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend dabei hilft, die ihnen widerfahrene Gewalt aufzudecken.

Das Vorhaben zielt auf die Prävention von sexuellem Missbrauch bei männlichen Betroffenen. Dafür wird der Verlauf von Aufdeckungsprozessen aus mehreren Perspektiven mittels qualitativer Methoden erhoben und analysiert. Interviews mit BerufsexpertInnen, BetroffenenexpertInnen und mit unterstützenden Beteiligten sollen Aufschluss darüber geben, wer oder was im Aufdeckungsprozess unterstützend erlebt wurde.

Die Ergebnisse dieser Studie sollen in der zweiten Projektphase in Praxisvorschläge übersetzt werden, die eine Professionalisierung des pädagogischen und therapeutischen Personals insbesondere in Weiterbildungen zum Ziel haben. Auf Basis der Erkenntnisse aus Interviews und Literaturanalyse werden Fortbildungskonzepte für Personen entwickelt und getestet, die Aufdeckungsprozesse in verschiedenen Funktionen (zum Beispiel Beratung, Therapie, Kinderschutz) begleiten. Außerdem werden die Erkenntnisse aus dem Projekt als Buch veröffentlicht, in welchem auch Politikempfehlungen gegeben werden. Es wird einen bundesweiten Fachtag und mehrere Workshops für besondere Akteursgruppen geben.

Mit dieser Studie wird der Versuch unternommen, zur Aufklärung der Öffentlichkeit über männliche Betroffenheit von sexualisierter Gewalt beizutragen und eine "Kultur des Hinsehens" zu fördern. Diese Sensibilisierung soll dazu beitragen, dass es männlichen Betroffenen in Zukunft leichter fällt, sexuellen Missbrauch aufzudecken.

Dieses Forschungs- und Praxisprojekt wird von Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. (Berlin) in Kooperation mit dem Institut für Männer- und Geschlechterforschungin Graz, Tauwetter e.V. (Berlin), mannigfaltig Minden-Lübbecke e.V. und DREIST e.V. (Eberswalde) durchgeführt. Ein wissenschaftlicher Beirat sowie eine Kooperation mit der Universität Kassel tragen wesentlich zur Umsetzung der Ziele bei.

Es handelt sich dabei um ein Projekt, das – unter Beteiligung eines österreichischen Forschungsinstituts (Institut für Männer- und Geschlechterforschung, Graz) – in Deutschland umgesetzt wird. Die Ergebnisse dieser Studie sind deshalb vor allem für die Situation in Deutschland nutzbar. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema und die Ergebnisse aus Interviews mit BerufsexpertInnen, die im Rahmen dieses Projekts vereinzelt in Österreich durchgeführt wurden, zeigen, dass Österreich von einer "Kultur des Hinsehens" noch weit entfernt ist. Es gilt, entsprechende Studien und Praxisprojekte in Österreich voranzutreiben, damit die Aufdeckung von sexuellem Missbrauch bei Burschen auch hierzulande erleichtert wird.

Elli Scambor (Institut für Männer- und Geschlechterforschung, Graz) mit Bernard Könnecke, Ralf Puchert, Thomas Viola Rieske, Ulla Wittenzellner (Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V., Berlin) und Thomas Schlingmann (Tauwetter e.V., Berlin)

 

Literatur

  • [1] Bange, Dirk: Eltern von sexuell missbrauchten Kindern: Reaktionen, psychosoziale Folgen und Möglichkeiten der Hilfe. Hogrefe, 2011
  • [2] Bange Dirk: Sexueller Missbrauch an Jungen. Die Mauer des Schweigens. Göttingen: Hogrefe, 2007
  • [3] Bergmann, Dr. Christine : Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Burschen in Institutionen München: Deutsches Jugend Institut, 2012
    Abschlussbericht des DJI-Projekts im Auftrag der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs.
  • [4] Hershkowitz, I., Horowitz, D. & Lamb, M. E.: Trends in children's disclosure of abuse in Israel: A national study. In: Child Abuse & Neglect, 29(11), 1203-1214, 2005
  • [5] Hinz, A.: Geschlechterstereotype bei der Wahrnehmung von Situationen als "sexueller Missbrauch". In: Zeitschrift für Sexualforschung, 14, 214-225, 2001
  • [6] Martin, G., Bergen, H., Richardson, A., Allison, S. & Roeger, L.: Sexual Abuse and Suicidality: Gender Differences in a Community Sample of Adolescents. In: Child Abuse and Neglect, 28 (5), 491-503, 2004
  • [7] Mosser, P.: Wege aus dem Dunkelfeld. Aufdeckung und Hilfesuche bei sexuellem Missbrauch an Burschen Wiesbaden: VS Verlag, 2009
  • [8] Spitzock von Brisinski, M.: Auftritt vor Ort – Prävention von sexueller Gewalt an Jungen im öffentlichen Raum. In: Sexualisierte Gewalt gegen Jungen: Prävention und Intervention. Ein Handbuch für die Praxis. 43-70., Wiesbaden: Springer VS, 2014