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THEMEN 2015

Sexuelles Verhalten im Kindesalter – Grenzen und Normalität

Expertinnenstimmen

Mag Anne Lintner und Mag Claudia Mayer

Die kindliche Sexualität ist weniger zielgerichtet und stärker durch Spontaneität und Ausprobieren gekennzeichnet. Grundsätzlich hat Sexualität in allen Altersgruppen mit dem Suchen und Erleben körperlichen Genusses zu tun. Sie kann als Lebensenergie verstanden werden, die den Menschen ein Leben lang begleitet.

Im Kindergartenalter wird den Kindern verstärkt bewusst, dass sie Mädchen oder Jungen sind. Sie zeigen Interesse am eigenen und anderen Geschlecht und setzen sich zunehmend mit ihrer Geschlechtsrolle auseinander. In "Doktorspielen" agiert das Kind seine Neugierde und seinen Wissensdrang aus.

Im Grundschulalter findet das Kind mehr einen kognitiven Zugang zur Sexualität und erwirbt Sachwissen über den menschlichen Körper. Nicht immer entwickelt sich ein Kind so, wie es wünschenswert wäre, auch im Hinblick auf seine Sexualität. Das kann unterschiedliche Gründe haben.

Phasen der psychosexuellen Entwicklung

Es kommt darauf an, wie das Kind die jeweilige Phase der psychosexuellen Entwicklung durchlebt und abschließen kann.

Säuglinge und Kleinkinder identifizieren sich hinsichtlich des Aufbaus der Geschlechtsrollenidentität nicht nur mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, sondern auch mit der Art des sexuellen Umgangs des Elternteils mit dem Anderen. Das Kind entwickelt eine Vorstellung bzw. eine Phantasie über den Geschlechtsverkehr der Eltern ("Urszene").

Die Triebentwicklung hängt im Wesentlichen von den Objektbeziehungen, also von den Beziehungen zu den Bezugspersonen ab. Für die sexuelle Entwicklung des Mädchens, ist die unbewusste Einstellung der Mutter zu ihrer eigenen Weiblichkeit von großer Bedeutung. Es geht darum, ob die Mutter die Tochter als Gleiche und als Andere begehren und von ihr begehrt werden kann.

Um sich adäquat entwickeln zu können, ist es von großer Bedeutung den ödipalen Konflikt lösen zu können. In dieser Phase begehrt das Kind den gegengeschlechtlichen Elternteil. Es geht auch darum, zu erkennen, dass es zwischen den Eltern etwas gibt, woran man als Tochter oder Sohn nicht teilnimmt und ausgeschlossen wird, nämlich die sexuelle Beziehung zwischen den Eltern. Diesbezüglich ist es wichtig, wie die Eltern mit diesem Konflikt und mit den dazu entstehenden Phantasien des Kindes umgehen. Es handelt sich um einen Balanceakt zwischen Einfühlungsvermögen und Klarheit im Handeln.

Das Mädchen wendet sich also dem Vater zu und identifiziert sich gleichzeitig mit der Mutter. Von Bedeutung sind die unbewusste Vorstellung der sexuellen Beziehung zwischen den Eltern und das Begehren des Vaters durch die Mutter. Der Junge identifiziert sich mit dem Vater. Es entsteht eine gewisse Rivalität bezüglich des Begehrens der Mutter.

Für eine gesunde sexuelle Entwicklung der Kinder ist es notwendig, mit Hilfe der Eltern oder anderen Bezugspersonen gut durch die psychosexuellen Entwicklungsphasen begleitet zu werden. Dies beginnt durch eine sichere Bindung im Säuglingsalter und endet in der Adoleszenz bis hin zum Loslösungsprozess. Es ist wichtig ein Mittelmaß zwischen Bindung und Autonomiebestreben zu finden. Diese Bedürfnisse sollen von den Erziehern wahrgenommen und berücksichtigt werden.

Grenzen des Sexualverhaltens

Weiters geht es um die Frage, welches sexuelle Verhalten grenzwertig und als nicht mehr normal bezeichnet werden kann. Dies ist aus Erwachsenensicht nicht immer leicht zu erkennen.

Immer dann, wenn Sexualität auf Kosten anderer ausgelebt wird, ist es nötig, einzugreifen und zu korrigieren.

Wenn Kinder ihrer Neugierde, ihrem Lustprinzip und ihrem Bedürfnis nach körperlicher Nähe folgen, gehört das zu den normalen kindlichen Betätigungen. Anders ist es, wenn gezielt durch Druck, Versprechungen oder körperliche Gewalt sexuelle Handlungen erzwungen werden. In diesem Fall werden die Grenzen übertreten und die Intimsphäre des anderen Kindes missachtet. In den Fällen, in denen geplant und gezielt vorgegangen wird, herrscht zumeist ein Machtgefälle zwischen den beteiligten Kindern.

Sprechen wir von sexuellen Übergriffen unter Kindern, dann sollte sorgfältig mit bestimmten Begriffen umgegangen werden. Zu schnell wird im Alltag von "sexuellem Missbrauch" gesprochen. Kinder werden als Täter oder Opfer bezeichnet und auch entsprechend behandelt. Diese Zuschreibung ist jedoch fatal. Bei sexuellen Übergriffen unter Kindern die beteiligten Kinder auf Täter und Opfer festzuschreiben kann eine Entwicklung forcieren, die ihnen eher schadet als nutzt.

Im Zusammenleben und in der alltäglichen Arbeit mit Kindern gilt es, sehr genau hinzuschauen, wie und warum es zu den Übergriffen gekommen ist. Nur aus dieser Wahrnehmung heraus lässt sich die Situation einschätzen und lassen sich angemessene und sinnvolle Konsequenzen entwickeln.
Im Vorschulalter interessieren sich Kinder für den eigenen und fremden Körper. In Form von Doktorspielen finden gegenseitige Untersuchungen statt. Sie sind altersgemäß, gehören zur normalen Entwicklung und sind nicht grundsätzlich abzulehnen. Bei den Doktorspielen sollten allerdings mit den Kindern Regeln abgesprochen werden, denn sie geben den Kindern Orientierung und Sicherheit im Umgang miteinander.

Mögliche Regeln können sein:

  • Doktorspiele sind erlaubt, wenn alle Beteiligten sie freiwillig spielen wollen!
  • Jeder bestimmt selbst, mit wem er spielen möchte.
  • Jedes Kind achtet darauf, ob das Spiel wirklich Spaß macht.
  • Niemand darf dem anderen wehtun!
  • Mag ein Kind nicht mitspielen, so darf es Nein sagen und das Spiel verlassen.
  • Jeder hat das Nein des Anderen zu akzeptieren.
  • Es wird nicht gedroht oder erpresst, um ein Mitspielen zu erzwingen.
  • Hören die anderen nicht auf das Nein, darf sich das Kind Hilfe bei den Erwachsenen holen.
  • Doktorspiele werden nur zwischen Gleichaltrigen akzeptiert - nicht zwischen Erwachsenen und Kindern, älteren Hort- und Kindergartenkindern.

Diese Regeln sollten vom Erwachsenen jeweils auf seine persönliche Einstellung, Haltung hin oder auch innerhalb der Institution bzw. Familie abgestimmt und besprochen werden. Aus einem zunächst einvernehmlichen Doktorspiel kann sich schnell eine Grenzüberschreitung entwickeln, weil der "Doktor" vielleicht im Eifer der Untersuchung sein Fieberthermometer gegen den Willen des "Patienten" einführt. Hier kippt dann schnell das Spiel und aus Spaß und Freude werden Ärger und Schmerz.

Nimmt ein Erwachsener solche Situationen wahr, oder werden sie ihm erzählt, ist ein Eingreifen nötig.

Doktorspiele sind meist unproblematisch, wenn sich zwei Kinder auf dem gleichen Entwicklungsniveau befinden. Je unterschiedlicher jedoch der Reife- und Entwicklungsstand zwischen Kindern ist, desto größer ist die Gefahr, dass das vorliegende Ungleichgewicht der Interessen und Machtverhältnisse ausgenutzt wird.

Für den Erwachsenen fangen hier die Schwierigkeiten an:

  • Handelt es sich noch um ein einvernehmliches Spiel oder wird ein Kind unter Druck gesetzt, manipuliert?
  • Sind die beteiligten Kinder auf der gleichen Entwicklungsstufe oder ist ein Kind dem anderen weit voraus und darum überlegen?

Ohne die Kinder genau zu beobachten, können diese Fragen kaum beantwortet werden. Fingerspitzengefühl und Sensibilität für die Spielsituation helfen, sich Klarheit zu verschaffen.

Zusammenfassung

Spiele, die über kindliches Ausprobieren hinausgehen, stark an Erwachsenensexualität erinnern, die seelische oder körperliche Gewalt beinhalten und zu Verletzungen führen, sind als Übergriffe einzustufen.

Das Spektrum an sexuellen Aktivitäten, die zu einer völlig normalen Entwicklung gehören, ist breit. Kinder müssen die Chance haben, ihren Körper zu entdecken und soziale Regeln zu lernen. Es wäre daher sicher falsch, sexuell gefärbte Spiele zu verhindern und Kindern keinen Rückzugsraum zu ermöglichen. Jedoch sollten Kinder vor schädlichen Erfahrungen geschützt werden und sexuelle Übergriffe dürfen nicht bagatellisiert werden.

Es kann für die verantwortlichen Erwachsenen entlastend sein, mit einer Fachkraft über schwierige sexuell gefärbte Alltagsituationen zu sprechen und eine Unterstützung in der Einschätzung der Situation zu erhalten.

Die Fachberatungsstelle sieht ihre Aufgabe darin, allen Beteiligten bei der Klärung und Verarbeitung des Vorgefallenen zu helfen.

Mag. Anne Lintner, Psychotherapeutin für Psychodrama und Kinder sowie Jugendpsychotherapeutin und Mag. Claudia Mayer, Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision, beide vom Kinderschutzzentrum Wörgl

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