THEMEN 2015
Von Realitäten und Utopien

Mag.a Barbara Neudecker
Expertinnenstimme
Mag.a Barbara Neudecker
In der Arbeit zum Thema Gewalt an Kindern und Jugendlichen beschäftigen wir uns mit verschiedenen Zeitabschnitten
In der Prävention geht es darum, Mädchen und Burschen zu stärken, bevor sie in die Situation kommen, Gewalt zu erleben oder auch auszuüben. Im Rahmen der Intervention ist unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet, was Heranwachsende erleben, wenn sie Gewalterfahrungen machen und was sie brauchen, damit die Gewalt beendet werden kann. Nach Beendigung der Gewalt stellt sich die Frage, wie Betroffene in Anbetracht des Erlebten zu einem "normalen" Leben zurückfinden können.
Psychotherapie ist eine der Maßnahmen, die hilft, das Geschehene und seine Auswirkungen zu verarbeiten. Seit fast 20 Jahren gibt es mit der Prozessbegleitung eine weitere Interventionsform, die nach dem Erleben von Gewalt einsetzt. Sie wird vom Bundesministerium für Justiz finanziert und ermöglicht es, Kinder und Jugendliche, die Gewalt erlebt haben sowie ihre Bezugspersonen vom Beginn bis zum Ende ihres Strafverfahrens psychosozial und juristisch zu begleiten.
Seit 2006 haben Personen, die durch eine Straftat Opfer von körperlicher, psychischer, sexueller Gewalt oder gefährlicher Drohung wurden oder durch eine Straftat einen Angehörigen verloren haben, Rechtsanspruch auf kostenlose psychosoziale und juristische Prozessbegleitung. Während sich verschiedene Einrichtungen auf die Prozessbegleitung erwachsener Gewaltopfer spezialisiert haben, bieten die österreichischen Kinderschutzzentren und andere spezialisierte Beratungsstellen Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche, an. (Eine Liste dieser spezialisierten Einrichtungen findet sich z.B. unter www.pb-fachstelle.at. Viele meiner Ausführungen lassen sich auch auf erwachsene Opfer von Gewalt anwenden, auch wenn ich sie nicht explizit erwähne.)
Prozessbegleitung
Prozessbegleitung unterscheidet sich von den eingangs erwähnten Interventionsformen allerdings in einem Punkt fundamental:
Während Präventionsveranstaltungen, Interventionskonzepte und psychotherapeutische Verfahren im Bereich des Kinderschutzes die Bedürfnisse von gewaltbetroffenen Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt rücken und versuchen, Mädchen und Buben zu schützen, ohne sie zu überfordern, ohne ihre Grenzen zu missachten und ohne ihnen weitere Traumatisierungen zuzumuten, bewegt sich Prozessbegleitung an der Schnittstelle zum Justizsystem im Spannungsfeld von Kinderschutz und Strafverfolgung.
Ein Gerichtsverfahren stellt eine massive, oft gewaltsame Konfrontation mit der gewaltsamen Realität dar. Nicht die betroffene Person entscheidet, wann sie bereit ist, über das Erlebte zu sprechen oder ob sie alles erzählen möchte oder nur Teile davon.
In einem Strafverfahren ist das Opfer Zeugin oder Zeuge – zwar mit besonderen Rechten, doch leiten andere Prinzipien das Verfahren:
- Strafverfolgung,
- Wahrheitsfindung,
- Wiederherstellung des Rechtsfriedens.
Dazu ist es etwa notwendig, dass das betroffene Kind im Gerichtsverfahren – unter Wahrheitspflicht – eine Aussage macht, in denen die strafbaren Handlungen möglichst vollständig, detailliert und kohärent geschildert werden. Dass dies eine große Belastung ist und mitunter zu (erneuten) Traumatisierungen führen kann, ist leicht nachzuvollziehen (vgl. dazu etwa Volbert 2008) – vor allem, wenn man bedenkt, dass es oft nicht die Entscheidung der betroffenen Mädchen oder Buben war, Anzeige zu erstatten, sondern Eltern, der Kinder- und Jugendhilfeträger oder andere die das Gerichtsverfahren initiiert haben.
Schonender Umgang mit "OpferzeugInnen"
ProzessbegleiterInnen setzen an verschiedenen Ebenen an, damit betroffene Kinder und Jugendliche als „OpferzeugInnen“ einen schonenden Umgang erfahren können.
Wo es möglich ist, versuchen sie, Kinder im Strafverfahren vor Belastungen zu schützen (z.B. vermeiden, dem Täter/der Täterin bei Gericht zu begegnen, Kennenlernen von RichterInnen oder Sachverständigen vor der Befragung,...). Wo es nicht möglich ist, Belastungen zu vermeiden, werden ihre Auswirkungen dadurch reduziert, dass die Kinder durch kindgerechte Information und Aufklärung gut auf das vorbereitet werden, was auf sie zukommt (z.B. durch die Erklärung, warum das Gericht bei sexueller Gewalt auch unangenehme, intime Fragen stellen muss).
Schließlich geben ProzessbegleiterInnen Mädchen und Burschen Sicherheit, indem sie anbieten, sie als Vertrauensperson zu allen Terminen bei Polizei und Gericht zu begleiten. Auch auf einer übergeordneten, fallunabhängigen Ebene versuchen ProzessbegleiterInnen, die Situation von gewaltbetroffenen Kindern und Jugendlichen im Strafverfahren zu verbessern (z.B. indem sie freundlich gestaltete Wartebereiche bei den Gerichten anregen oder bei Kooperationstreffen VertreterInnen von Polizei und Gericht darüber aufklären, wie Mädchen und Buben Gewalt erleben und welche besonderen Bedürfnisse sie im Strafverfahren haben).
Man kann sich die Rolle der Prozessbegleitung wie die eines Bergführers vorstellen: Er kennt den Weg zum Gipfel, er schaut darauf, dass Personen, die den Aufstieg das erste Mal vor sich haben, gut vorbereitet und ausgerüstet sind und über die Route Bescheid wissen. Er lässt sie auf dem schwierigen Weg nicht alleine und achtet darauf, dass seine Schützlinge nicht überfordert werden. Zusammen mit anderen kann er dafür sorgen, dass besonders schwierige Stellen in Zukunft vielleicht entschärft werden, damit auch andere vom besser gesicherten Weg profitieren können.
Viele dieser gefährlichen Stellen konnten für Gewaltopfer in den letzten Jahren entschärft werden. Dass Gewaltopfer im Strafverfahren ein Recht auf Prozessbegleitung haben, ist nur ein Aspekt. Ein weiterer ist, dass Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt erlebt haben, nicht in der Hauptverhandlung vor dem oder der Beschuldigten aussagen müssen, sondern im Vorfeld "kontradiktorisch" einvernommen werden und diese Aussage für die Hauptverhandlung aufgezeichnet wird.
Ein gesichtere Weg durch das Strafverfahren
Dennoch erleben wir, dass der Weg durch das Strafverfahren für minderjährige Opfer von Gewalt immer wieder aufs Neue gesichert werden muss.
- Aufgrund der Personalfluktuation bei Polizei und Gericht werden erfahrene BeamtInnen, zu denen bereits eine gute Kooperation aufgebaut werden konnte, durch neue KollegInnen ersetzt und wichtige Inhalte müssen von neuem vermittelt werden.
- Dass das Vorurteil, Kindern und Jugendlichen mache Gewalt nicht so viel aus und sie würden sich leichter wieder davon erholen als Erwachsene, aus psychotraumatologischer Sicht wissenschaftlich widerlegt werden kann;
- dass die Einschätzung, ob Mädchen oder Buben "glaubwürdig" aussagen, komplex und auch für aussagepsychologische Sachverständige oft sehr herausfordernd ist und daher nicht leichtfertig nach einer ersten polizeilichen Aussage getroffen werden kann;
- dass es aus rechtlicher Sicht möglicherweise zutreffend ist, dass Opfer im Hauptverfahren gegebenenfalls durch eineN andereN SachverständigeN begutachtet werden müssten als im Ermittlungsverfahren, es für Kinder und Jugendliche aber eine enorme zusätzliche Belastung wäre, in Zusammenhang mit dem Erlebten mit noch einer weiteren Person im Strafverfahren konfrontiert zu werden,...
Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden.
Es bleibt eine Herausforderung für all jene, die in der Prozessbegleitung tätig sind, dass wir Kinder und Jugendliche nach der Belastung durch die Gewalterfahrung vor Belastungsfaktoren im Strafverfahren schützen wollen, aber nicht immer verhindern können, dass sie auf traumatisierende Weise mit der Tat konfrontiert werden, dass ihre Grenzen nicht respektiert werden und sie erneut in Zustände der Ohnmacht, der Überwältigung, der Verwirrung und der Verzweiflung geraten. Diese Belastungen, die dazu führen, dass sich eine Person erneut als Opfer erlebt, werden unter dem Begriff der "sekundären Viktimisierung" (Tschauner 2006, 22) zusammengefasst.
Wir erleben aber auch, dass ein Strafverfahren einen Beitrag zur Bewältigung belastender oder traumatischer Erfahrungen leisten kann (vgl. Volbert 2008). Dazu muss es nicht notwendigerweise zu einer Verurteilung des Täters bzw. der Täterin kommen. Was Kindern und Jugendlichen wichtig ist, ist dass sie sich ernst genommen, gerecht und mit Respekt behandelt fühlen. Wenn sich z.B. eine Richterin Zeit nimmt, um ein Mädchen nach der Hauptverhandlung in ihr Büro einzuladen und ihm in verständlichen Worten zu erklären, warum sie in diesem speziellen Fall den Angeklagten freisprechen musste, dann kann das für dieses Mädchen eine ungeheuer wichtige Erfahrung sein. Es kann ihm helfen zu verstehen, dass der Ausgang eines Strafverfahrens bestimmten "Spielregeln" zu folgen hat und dass ein Freispruch nicht unbedingt bedeutet, dass dem Mädchen nicht geglaubt wurde.
Hätte man vor 20 Jahren ein Rechtssystem gefordert, in dem es einen gesetzlichen Anspruch auf Prozessbegleitung gibt, in dem Kinder und Jugendliche ihre Aussage nicht in der Hauptverhandlung vor dem Angeklagten und allen anderen Verfahrensbeteiligten machen müssen und in dem Opferrechte in der Strafprozessordnung rechtlich verankert sind, wäre dies wohl als utopische Vorstellung abgetan worden.
Utopien/Realitäten
Da aber aus Utopien offenbar manchmal auch Realitäten werden können, möchte ich einen weiteren utopischen Gedanken an den Schluss meiner Überlegungen stellen: den Gedanken, dass in Zukunft Strafverfahren wegen körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt, die von Opfern nicht als gewaltsam erlebt werden, die Regel sind.
Was ist damit gemeint?
Wie ich auszuführen versuchte, erwarten Opfer im Strafverfahren nicht unbedingt, dass alles nach ihren Wünschen gehen müsste oder sie bevorzugt behandelt werden müssten. Bei meiner Vorstellung eines "gewaltfreien" Strafverfahrens geht es weniger darum, minderjährige Opfer um jeden Preis vor unangenehmen Tatsachen zu schonen als darum, wie ihnen bestimmte Dinge vermittelt werden.
In einem solchen Verfahren würden BeamtInnen der Polizei vielleicht nicht unmittelbar nach der Einvernahme einer Jugendlichen ihre Glaubwürdigkeit anzweifeln, sondern sagen:
"Du hast uns jetzt erzählt, wie Du es erlebt hast. Wir müssen nun aber auch mit allen anderen Beteiligten sprechen, wie es in ihrem Erleben war."
Das bedeutet, dass der Versuch der Wahrheitsfindung von den Betroffenen als sachlich motiviert erlebt werden kann und nicht mit Anzweifeln oder Einschüchtern der Zeugin verbunden ist. Die Anwesenheit von ProzessbegleiterInnen würde nicht als störend oder lästig erlebt werden, sondern als sinnvolle, angemessene und aus gutem Grund rechtlich verankerte Unterstützung für die betroffenen Mädchen und Burschen.
In dieser Utopie müssten die traumatischen Auswirkungen von Gewalt und die belastenden Auswirkungen von Befragungen, Begutachtungen etc. nicht in Frage gestellt werden. StaatsanwältInnen und RichterInnen wären sich der Zumutungen bewusst, die ihre Handlungen für die Betroffenen darstellen und könnten dies auch entsprechend kommunizieren:
"Uns ist klar, dass eine lange Verfahrensdauer für die Betroffenen sehr belastend ist. Dennoch ist es unsere Aufgabe, alles ganz gründlich und gerecht zu machen, und daher müssen wir noch einmal vertagen, um dem Beschuldigten die Möglichkeit zu geben, ein ärztliches Gutachten beizubringen/eine bestimmte Person als Entlastungszeugen zu befragen,..."
(Natürlich ist das in den meisten Fällen weniger eine Frage der persönlichen Bereitschaft als eine der vorhandenen Ressourcen und der Arbeitsbelastung bei Staatsanwaltschaft und Gericht.)
Das würde gewaltbetroffenen Mädchen und Buben viele bedeutsame Erfahrungen ermöglichen:
- Dass es (wenn schon nicht dem Beschuldigten und seiner Verteidigung, dann zumindest den VertreterInnen der staatlichen Instanzen) möglich ist, sich mit dem Thema Gewalt und der Straftat ruhig und sachlich auseinanderzusetzen und nicht nur emotional eskalierend, leugnend oder abwertend,
- dass jemand Interesse daran hat, sich die Geschichte des Opfers ruhig, aufmerksam und unvoreingenommen anzuhören (ebenso wie die Geschichte der Gegenseite) um die Grundlage dafür zu schaffen, ein gerechtes Urteil fällen zu können (das – auch wenn es nicht den eigenen Erwartungen entspricht – leichter akzeptiert werden kann, wenn nachvollziehbar ist, wie dieses Urteil zustande kam),
- und dass man deswegen Vertrauen in die Instanzen der Strafverfolgung haben darf und es gut ist, sich in zukünftigen Situationen wieder an sie zu wenden, ohne Angst zu haben, sich dann beschämt, ausgeliefert oder missachtet fühlen zu müssen.
Und dann wäre Prozessbegleitung möglicherweise von den anderen Interventionen im Kinderschutz nicht mehr so weit entfernt...
Ein Gerichtsverfahren wird für Betroffene nie zu einem Sonntagsspaziergang werden. Dennoch müssen wir in der Prozessbegleitung zusammen mit allen anderen beteiligten Institutionen weiter daran arbeiten, den Weg für Gewaltopfer zu sichern und zu entschärfen. Dies bei unserem bestehenden Wissen über die Risiken und Gefahren für die Betroffenen nicht zu tun, wäre eine Form der gesellschaftlichen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.
Mag.a Barbara Neudecker MA - Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche
Literatur
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[1] Tschauner, M.: Die Anhörung von kindlichen Opfern sexueller Gewalt aus psychotraumatologischer Sicht Verlag für Polizeiwissenschaft: Frankfurt, 2006
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[2] Volbert, R.: Vorschläge zur Belastungsreduktion für minderjährige Geschädigte in Strafverfahren aus rechtspsychologischer Sicht In: Fastie, F. (Hrsg.): Opferschutz im Strafverfahren. Barbara Budrich: Opladen & Farmington Hills, S. 317-329, 2008
Links
Fachstelle - Prozessbegleitung
Psychosoziale und juristische Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche