THEMEN 2016
Sexualisierte Gewalt und Trauma

Mag. DSA Anke Hefen
Expertinnenstimme
Mag. DSA Anke Hefen
Was ist sexualisierte Gewalt
Motive für sexualisierte Gewalt sind nicht ausschließlich Sexualität oder wie so oft gemeint Triebbefriedigung, sondern Machtmissbrauch bzw. Demonstration von Überlegenheit. Sexualisiert bedeutet folglich, dass sexuelle Handlungen dazu dienen Frauen und Mädchen zu erniedrigen, zu demütigen und zu unterdrücken.
Gewalt beginnt dort, wo Mädchen und Frauen in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt werden und Situationen und Umgebungen meiden müssen, um nicht beleidigt, belästigt oder bedroht zu werden.
Die Erscheinungsformen sexualisierter Gewalt reichen von anzüglichen, aufdringlichen Blicken, unerwünschten Kommentaren und Berührungen, „schmutzigen“ Witzen, sexistischen Bemerkungen bis hin zu Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch. Auch Frauenhandel, Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung und die Pornographische Darstellung von Minderjährigen fallen unter den Begriff der sexualisierten Gewalt.
Der gemeinsame Aspekt aller dieser sexualisierten Gewalthandlungen ist, dass sie gegen den Willen der betroffenen Frau/des betroffenen Mädchens vollzogen werden und zum Ziel haben, Frauen und Mädchen herabzusetzen.
Vergewaltigung und sexueller Missbrauch sind Ausprägungen sexualisierter Gewalt, die deshalb so schwer zu verkraften sind, weil sowohl die körperliche als auch die psychische Integrität einer Frau/eines Mädchens beträchtlichen Schaden nimmt.
Was ist ein Trauma
Der Begriff Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet Verletzung oder Wunde. Ein Trauma kann sowohl körperlich als auch seelisch sein.
Von einem traumatischen Ereignis spricht man, wenn:
Die Person selbst Opfer oder Zeuge eines Ereignisses war, bei dem das eigene Leben oder das Leben anderer Personen bedroht war oder eine ernste Verletzung zur Folge hatte. Die Reaktion der betroffenen Person beinhaltet Gefühle von intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen. [1; Seite18]
Naturkatastrophen und Autounfälle können auch Ereignisse sein, die Traumareaktionen auslösen. Besonders schwere Traumareaktionen sind zu erwarten, wenn:
- das Ereigniss sehr lange dauert
- sich die Ereignisse häufig wiederholen
- das Opfer mit schweren Verletzungen zurückgelassen wird
- das Ereignis vom Opfer schwer zu verstehen ist
- es zwischenmenschliche Gewalt beinhaltet
- der Täter ein nahe stehender Mensch ist
- das Opfer den Täter mochte (mag)
- das Opfer sich mitschuldig fühlt
- die Persönlichkeit des Opfers noch nicht gefestigt oder gestört ist
- sexuelle Gewalt beinhaltet war
- sadistische Folter beinhaltet war
- mehrere Täter das Opfer misshandelt haben
- das Opfer starke Dissoziationen hatte
- dem Opfer unmittelbar danach niemand beigestanden hat
- niemand nach der Tat mit dem Opfer darüber gesprochen hat
Auf sexualisierte Gewalt treffen meist mehrere der oben genannten Punkte zu. Das Erleben sexueller Übergriffe ist immer mit enormem Stress für die Betroffene verbunden und bringt sie in psychische und physische Todesnähe. Es kommt zu einer Überflutung von Reizen. Alle im normalen Alltag zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen werden außer Kraft gesetzt. All das ruft Gefühle von absoluter Hilflosigkeit, extremer Angst, eigener Wirkungslosigkeit und Ohnmacht hervor.
Reaktionen unmittelbar nach traumatischen Ereignissen, wie z.B. nach einer Vergewaltigung können sein:
- Bewusstseinseinengung/Desorientiertheit
- eingeschränkte Aufmerksamkeit
- Unruhezustände und Hyperaktivität
- es können auch Zeichen einer vegetativen Übererregung wie panische Angst, Herzrasen, Schweißausbrüche und Zittern auftreten.
Diese Symptome erscheinen im Allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und gehen auch innerhalb von 2-3 Tagen, manchmal auch innerhalb von Stunden, zurück. Nach dem internationalen Klassifikationsschema für psychische Störungen wird dieser Zustand als akute Belastungsreaktion bezeichnet.
Spezifische Reaktionen nach einem Trauma
Wiedererleben
Extremstressereignisse bewirken, dass eingehende Informationen im Gehirn nicht adäquat verarbeitet und abgespeichert werden. Traumatische Erfahrungen werden im Alarmgedächtnis des Gehirns in Form von Erlebnisfragmenten abgespeichert, die isoliert bleiben und nicht angemessen in Raum und Zeit eingeordnet werden.
Diese sensorischen Erlebnisfragmente sind dann die Grundlage von so genannten Intrusionen oder Flashbacks, bei denen die traumatischen Erfahrungen ungefiltert immer wieder hochkommen. Gedanken, Bilder, Körperempfindungen oder Wortfetzen drängen sich den Betroffenen auf, sodass der Eindruck entsteht, als würde sich das Trauma wirklich wiederholen.
Diese Nachhallerinnerungen oder Flashbacks können so präsent sein, als geschähe das Trauma erneut. Auch die damit verbundenen Gefühle wie Angst, Panik, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Schrecken werden dann ähnlich erlebt wie in der Trauma-Situation.
Auch körperliche Reaktionen, die zum Zeitpunkt des Traumas vorhanden waren, werden erneut erlebt. Flashbacks dauern meistens nur einige Sekunden oder bis zu mehreren Minuten. Es kann vorkommen, dass betroffene Menschen die Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen, und sich von Ihrer Umgebung innerlich lösen. Dieser Zustand wird als Dissoziation oder Derealisation bezeichnet. Flashbacks sind ausgesprochen belastend, zudem führen sie zu Ängsten, „verrückt“ zu werden. Flashbacks sind ein Ausdruck dafür, dass das Trauma noch nicht verarbeitet ist. [2; Seite 24-26].
Übererregung
Eine weitere Reaktion auf ein traumatisches Ereignis sind Symptome einer gesteigerten inneren körperlichen Erregung (Hyperarousal).
Dieses Symptom bezieht sich auf körperliche Reaktionen, die sich im Sinne einer Alarmreaktion des Gehirns (eigentlich ein Schutzmechanismus) äußert. Adrenalin und andere Stresshormone werden ausgeschüttet, so als sei noch Gefahr vorhanden. Folgen dieser gesteigerten Erregung können Schlafstörungen sein, die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, unangemessene Ärgerreaktionen, leichte Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen und erhöhte Schreckhaftigkeit.
Viele Menschen, die ein Trauma erlebt haben sind auch empfindsamer gegenüber Geräuschen geworden, erschrecken beispielsweise, wenn das Telefon klingelt, oder plötzlich eine Tür geöffnet wird.
Ein Trauma erlebt und noch nicht integriert zu haben, führt zu Dauerstress. Traumatisierte Menschen sehen überall potentielle Gefahren, machen sich viele Sorgen und haben das Bedürfnis, alles zu kontrollieren. Das führt häufig zu völliger Erschöpfung. [2]
Vermeidung
Vermeidungsverhalten ist ein wichtiger Bewältigungsmechanismus, um Auslösern für Übererregung und Flashbacks aus dem Weg zu gehen. Menschen, die ein Trauma erlebt haben, versuchen Situationen zu meiden, die an das Trauma erinnern.
Dieses Vermeidungsverhalten stellt zunächst eine sinnvoll schützende Reaktion dar. Wenn sich die Angst aber auf alle möglichen Situationen ausweitet (generalisiert), schränken sie das normale Alltagsleben enorm ein und beeinträchtigen die Lebensqualität.
Eine andere mögliche Reaktionen auf ein Trauma kann auch sein, sich innerlich abzuschalten, um so wenig wie möglich von der Traumatisierung und den verbundenen Empfindungen und Gefühlen zu spüren. Manche Menschen benutzen zusätzlich Betäubungsmittel (Alkohol, Drogen, Medikamente etc.), um sich vor dem innerlich hohen Stress, den Spannungen und den überflutenden Gefühlen zu schützen.
Spezifische Traumafolgen können von den Betroffenen selbst meist gut in Zusammenhang mit dem dahinterstehenden traumatischen Ereignis betrachtet werden. Unspezifische Traumafolgen hingegen werden oftmals nicht mit einem traumatischen Ereignis in Verbindung gebracht. Gerade bei sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit sind die Erinnerungen gar nicht oder nur sehr schemenhaft vorhanden. Beschwerden, wie im Folgenden beschrieben, werden somit häufig nicht als Traumafolgen erkannt, können jedoch auf traumatische Ereignisse zurückgeführt werden.
Unspezifische Traumafolgen
Schlafstörungen
Traumatisierte Menschen leiden sehr häufig unter Schlafstörungen (Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen). Oftmals wiederholt sich das Traumaereignis in der Nacht in Form von Träumen/Albträumen. Die körperliche und psychische Erholung im Schlaf wird dadurch massiv beeinträchtig.
Körperliche Reaktionen und Schmerzen
Körperliche Beschwerden, die während des Traumas real erlebt wurden, können als Körpererinnerungen gespeichert werden. Symptome, wie beschleunigter Herzschlag, vermehrtes Atmen, Übelkeit, Durchfall, Schwindel, Schwitzen oder Schmerzen, für die keinerlei körperliche Ursachen gefunden werden, sind oft auf diese Körpererinnerungen zurückzuführen. Hat eine Betroffene in der Folge von einem Übergriff körperliche Verletzungen davongetragen, können die Schmerzen überdauern und chronisch werden, auch wenn die Verletzungen längst verheilt sind. Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, leiden häufig an Unterleibsproblemen für die keine medizinische Indikation zu finden ist.
Selbstverletzendes Verhalten
Bei ausgeprägten Flashbacks oder dissoziativen Zuständen kann es zu selbstverletzenden Verhalten kommen. Sich selbst Verletzungen zuzufügen – durch Schneiden, Ritzen oder Brennen - gilt als wirksamste Möglichkeit, dissoziative Zustände zu beenden. Es dient somit als Mittel gegen Kontrollverlust und trägt dazu bei, die Selbstkontrolle wieder zu erlangen. Dieses Verhalten kann auch Ausdruck einer Befindlichkeit sein, die die Betroffene noch nicht in Worte fassen kann. Häufige findet sich dieses Verhalten bei Menschen, die in der Kindheit über längere Zeit sexuell missbraucht wurden. Essstörungen (Bulimie und Magersucht) können ebenfalls Hinweise darauf sein, dass die Betroffene traumatisiert ist. [2]
Depressionen
Nach einem durch sexualisierte Gewalterfahrungen ausgelösten Trauma kann es vorkommen, dass Frauen an Depressionen leiden. Eine Depression ist gekennzeichnet durch das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, Interessenlosigkeit und Freudlosigkeit. Depressive Menschen haben wenig Antrieb und haben Dinge aufgegeben, die vor dem Trauma gerne unternommen wurden. Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Verlust der Libido sind weitere Kennzeichen einer Depression.
Erste Hilfe nach einem Trauma
Jede Verletzung, jede Wunde gehört versorgt. Eine gute Versorgung ist bei traumatischen Erlebnissen ebenso wichtig, wie bei körperlichen Verletzungen.
Körperliche und psychische Stabilisierung
Nach dem akuten Ereignis geht es in erste Linie um die körperliche und seelische Stabilisierung.
Körperlich heißt, neben der medizinischen Versorgung von körperlichen Wunden, für genügend Schlaf und Entlastung zu sorgen, sich ausgewogen zu ernähren und schädlich Substanzen (z.B. Alkohol, Drogen, aber auch vermehrten Kaffee- und/oder Nikotinkonsum) zu vermeiden. Unter Umständen kann auch eine medikamentöse Unterstützung sinnvoll sein, um eine anhaltende Stressreaktion zu verhindern.
Seelische Stabilisierung beinhaltet die Möglichkeit, über das Erlebte zu sprechen und die Geschehnisse in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Die Beantwortung der Fragen: Was ist passiert? Was habe ich gefühlt? Was habe ich gedacht? Wie habe ich reagiert? können dabei helfen.
Ziel ist es sich in der Gegenwart orientieren zu können, mit der Gewissheit, dass das traumatische Ereignis vorbei ist.
Innere und äußere Sicherheit
Ein weiteres Ziel nach einer Traumatisierung ist das Wiedererlangen eines Gefühls der Sicherheit und Geborgenheit.
Anfangs ist es oft nur möglich äußere Sicherheiten zu schaffen, die eigene Umgebung sicher zu gestalten, die Hilfe eines vertrauten Menschen anzunehmen. Wesentlich schwieriger gestaltet es sich, ein Gefühl der inneren Sicherheit zurück zu gewinnen. Dieser Prozess benötigt Zeit, eine stabile Umgebung und eventuelle auch professionelle Unterstützung in Form von Beratung oder Traumatherapie. [1]
Traumatherapie
Sexualisierte Gewalt stellt eine der massivsten Formen von Traumatisierung dar und zielt darauf ab, die Persönlichkeit des Opfers zu vernichten. Von einer Vergewaltigung erholen sich z.B. nur ein Viertel der Frauen von selbst. [1]
Wenn sich bereits Traum-Folgesymptome wie Wiedererleben, erhöhte Reizbarkeit, Vermeidung, Schlafstörungen, Depressionen, Ängste, Substanzenmissbrauch etc. zeigen, sollten Sie professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen.
Eine Traumatherapie hat zum Ziel, dass die Traumaerfahrungen eingeordnet werden können (räumlich und zeitlich) und somit eine Integration sowohl der körperlichen als auch der gefühlsmäßigen Anteile erreicht wird.
Unwillkürliche Erinnerungen und Trigger (Schlüsselreize) sollen steuerbar werden, das Gefühl der Kontrolle soll wieder aufgebaut werden. Wichtig ist das Vertrauen in die eigne Handlungskompetenz zurückzugewinnen. Das Trauma muss als ein Teil der individuellen Geschichte erlebbar werden, als Teil des eigenen Lebens, allerdings als ein Teil, der zur Vergangenheit gehört. Dieser Prozess der Heilung braucht Zeit!
Viele Frauen haben in der Kindheit sexuelle Übergriffe erlebt, können oder wollen diese Erlebnisse jedoch erst im Erwachsenenalter aufarbeiten. Dafür ist es nie zu spät!!!
Mag. DSA Anke Hefen, Dipl. Sozialarbeiterin und dipl. Musiktherapeutin und seit 2013 Geschäftsführerin der Frauenberatungsstelle TARA, Graz, Steiermark
Literatur
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[1] vgl. Luise Reddemann, Cornelia Dehner-Rau: Trauma. Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen. Trias, 2004
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[2] vgl. Ulrike Schäfer, Eckart Rüther, Ulrich Sachse: Hilfe und Selbsthilfe nach einem Trauma. Vandenhoeck Ruprecht, 2009