THEMEN 2016
Kinderschutz und Hochstrittigkeit

Dr.in Adele Lassenberger
Expertinnenstimme
Dr.in Adele Lassenberger
In den letzten Jahren sind Familien, die nach der Scheidung bzw. Trennung der Eltern durch langwierige familienrechtliche Verfahren in einer Weise verbunden bleiben, die mit Kindeswohl relevanten Einschränkungen einher gehen, vermehrt in den Blickpunkt der psychosozialen Fachpraxis geraten.
Zum Phänomen der Hochstrittigkeit (HC/High conflict) – dieser Terminus hat sich in der Fachliteratur für diese Konstellationen etabliert - gibt es auch eine Reihe von Forschungsergebnissen und Praxiserfahrungen, von denen einige Aspekte hier referiert werden sollen.
Vorweg genommen sei, dass die Mehrzahl der Eltern/Familien nach einer Scheidung bzw. Trennung mit all den damit verbundenen Belastungen und Krisen in der Regel zu einer Neuorientierung finden, die es Kindern erlaubt, ihre familiären Beziehungen weiterhin zu ihrem Wohl einerseits aufrecht zu erhalten und andererseits neu zu gestalten. Eine Minderheit jedoch schafft dies offensichtlich nicht und beschäftigt nicht nur Gerichte, sondern auch eine Reihe von psychosozialen Fachkräften. Diese schildern die Arbeit mit diesen Familien als ausgesprochen aufwendig und komplex und nicht selten erfolglos. Einigkeit herrscht schnell darüber, dass diese Konstellationen eine erhebliche Belastung für die Kinder darstellen.
Der Gesetzgeber hat in Österreich mit dem Kindschafts-Namensrechts-Änderungsgesetz von 2013 (KindNamRÄG 2013), mit dem so genannten „Familienrechtspaket", auch auf diese Zielgruppe reagiert und den Gerichten eine Reihe von zusätzlichen Instrumenten zur Verfügung gestellt (Familiengerichtshilfe, Besuchsmittler u.a.), mit dem Ziel auch strittigen Eltern im Sinne des Kindeswohls Kooperation aufzuerlegen.
Diesen Paradigmenwechsel hin zur gemeinsamen Obsorge gibt es in Deutschland schon seit 1998 mit einer Präzisierung im Sinne einer konsequenten Umorientierung zu Gunsten der Kinderrechte seit 2009 (Weber et al. 2013, S.9). Von Anfang an wurden trotz der grundsätzlich positiven Haltung zu den radikalen Neuerungen dieses Gesetzes einige Aspekte kritisch diskutiert. Dabei ging es vor allem darum, auch jene Minderjährigen, die in einem Gewaltkontext leben bzw. gelebt haben vor weiterer Gewalt zu schützen.
In Deutschland ist auf Grund der längeren Erfahrung die Diskussion über neue Herausforderungen, die die neue Praxis bringt, bereits umfangreicher und differenzierter. Der Blick auf die Praxiserfahrungen unseres Nachbarstaates lohnt sich (Walper/Fichtner/Norman 2011; Weber/Alberstötter/Schilling 2013; Aufsatzsammlung Hochstrittige Trennungsfamilien der deutschen Kinderschutzzentren 2013).
Was wird unter Hochstrittigkeit verstanden?
Dass Konflikte grundsätzlich auch persönlichem Wachstum dienen und Entwicklungspotential beinhalten, gehört zum Allgemeinwissen. Damit dem so ist, braucht es aber auch konstruktive Konfliktlösestrategien. Verfügen Menschen nicht über solche, können an sich normale und gesunde Konflikte ein destruktives Potential entfalten, das soweit gehen kann, dass eigene vitale Interessen dem Kampf mit dem Gegner geopfert werden. Vorläufer dazu sind Abwertung, Feindseligkeiten, Demütigungen, Falschinterpretationen ohne Möglichkeit dem Anderen eine Gegendarstellung zu gewähren, die Verweigerung der Kommunikation. Handelt es sich dabei nicht um einmalige oder kurzzeitige „Ausrutscher", welche von Einsicht begleitet sind, sind Weichen für einen „Rosenkrieg" gestellt.
Hochstrittigkeit ist zwar keine diagnostische Kategorie, als Konstrukt für die klinische Praxis macht es aber durchaus Sinn, zumal es Elternpaare beschreibt, die von den gängigen Beratungs- und Interventionskonzepten nicht profitieren können. Eine Minimaldefinition stammt von Paul und Dietrich (2006, zit. nach Bröning 2013). Demnach ist Hochstrittigkeit der gescheiterte Versuch von Eltern, kindbezogene Konflikte, nach der Trennung oder Scheidung mit gerichtlichen und außergerichtlichen Interventionen zu lösen. Immerhin findet die Mehrheit der getrennt lebenden Kindeseltern auch im Rahmen einer familienrechtlichen Klärung von Obsorge- und/oder Kontaktrechtsfragen innerhalb eines halben Jahres zu einer Lösung (Walper/Fichtner/ Normann 2011).
Während Eltern in Trennungskrisen Beratung oder Mediation aufsuchen, um ihre Konflikte eigenverantwortlich zu lösen, kommen hochstrittige Eltern – so sie sich überhaupt an eine Beratung wenden – in die Beratungsstelle mit dem Anliegen, diese als Bündnispartner zu installieren. Dieses einbeziehen Dritter in den Konflikt, und zwar nicht zur Lösung, sondern zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen, ist ein diagnostisch relevantes Kriterium.
Hochstrittige Eltern weisen folgende Merkmale auf:
- Fortgesetzte, über Jahre dauernde juristische Streitigkeiten, in denen keine außergerichtliche Einigung möglich ist.
- Emotionale Themen stehen im Vordergrund – die Konfliktdynamik und die emotionale Belastung durch den Konflikt nimmt mit der Dauer an Intensität zu und ist weit heftiger als zum Zeitpunkt der Trennung.
- Kinder werden im Konflikt instrumentalisiert.
- Dritte (überwiegend professionelle Personen und/oder Institutionen) werden als Bündnispartner in den Konflikt miteinbezogen – hochstrittige Familien beschäftigen in der Regel mehrere (bis zu acht) Helfersysteme (Alberstötter 2006, zit.n. Bröning 2011, S.22).
- Häufig finden sich symmetrische Streitmuster, d.h. die Eltern werfen sich gegenseitig mangelnde Erziehungskompetenz und eine wenig intensive Beziehung zum Kind vor (Kunkel 1997, zit. n. Bröning 2011).
Auswirkungen auf Kinder
Dass chronischer, von gegenseitiger Abwertung geprägter Elternstreit Kinder belastet ist gut dokumentiert. Genauso wie der Umstand, dass die Beendigung einer solchen Beziehung deutlich zur Entlastung von Kindern führt. Doch hochkonflikthafte Eltern bleiben nach einer Trennung bzw. Scheidung in einer zerstörerischen Weise verbunden, was mit erheblichen Belastungen für die Kinder einhergeht.
Kurzfristig können Kinder mit Aggressionsausbrüchen und/oder Rückzugsverhalten oder psychosomatischen Beschwerden reagieren, mittelfristig schlägt sich die erlebte Zerrissenheit zwischen den unversöhnlichen Elternteilen auf das Selbstbewusstsein und das Selbstempfinden nieder.
Einschränkungen sind auch im Bereich der sozialen Kompetenzen zu verzeichnen. Das Kind sieht sich mit unvereinbaren Forderungen und Erwartungen konfrontiert, soll Entscheidungen treffen, mit denen es – egal wie es sich entscheidet – einen Elternteil vor den Kopf stößt. Das führt dazu, dass es nicht auf eigene Bedürfnisse achten kann, weil es permanent damit beschäftigt ist, Eltern zu beschwichtigen und zu beruhigen, Stress zu vermeiden.
Die langfristigen Auswirkungen ergeben sich daraus: eine negative Einstellung zur Ehe und unbefriedigende störanfälligen Liebesbeziehungen im erwachsenen Alter, erhöhtes Scheidungsrisiko inklusive. Aber auch andere Beziehungen leiden unter verminderter Stressresistenz und mangelnder Affektregulation.
Nur wenige Kinder überstehen diese familiäre Erfahrung ohne Probleme in der Persönlichkeitsentwicklung, wenn ihnen nicht entsprechende Hilfen zur Bewältigung und Aufarbeitung zuteilwerden. Untersuchungen zeigen auch, dass diese Kinder im Erwachsenenalter schlechter verzeihen können, misstrauischer gegenüber anderen sind und zu depressiven Verstimmungen neigen. Sie erleben sich aber dabei erfolglos – selbst Gerichte und professionelle HelferInnen sind es ja mitunter auch – und es fehlt ihnen damit zunehmend an Selbstwirksamkeitserleben – eine wesentliche Säule psychischer Gesundheit – mit Folgen für die schulische und allgemeine Leistungsfähigkeit.
Mit dem Schulalter setzt auch ein Prozess ein, den Fachleute Parentifizierung nennen. Damit ist gemeint, dass Kinder elterliche, beschützende, aber auch regulierende und bestimmende Funktionen gegenüber ihren Eltern einnehmen, da diese durch ihr Konfliktverhalten und die damit verbundene emotionale Belastung sich nicht mehr erwachsen verhalten – eine Rollenumkehr also. Mit fortschreitendem Alter haben sich dann – mangels lebbarer Alternativen – von den Kindern selbst formulierte Kontaktabbrüche etabliert. Bemerkenswert ist auch, dass mit einem Kontaktabbruch zum getrennt lebenden Elternteil meist auch eine schwierige bis schlechte Beziehung zum Elternteil mit dem das Kind lebt, einhergeht.
Der Erziehungskompetenz der Eltern aus HC-Familien wird häufig ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Je länger der Konflikt andauert, desto weniger sind Eltern in den ihnen zugedachten Funktionen für ihre Kinder verfügbar. Zu den beschriebenen Belastungen kommt nun hinzu, dass HC-Eltern kaum noch adäquat auf diese Belastungen der Kinder reagieren können – ein Teufelskreislauf. Eltern schätzen die Belastungen ihrer Kinder auch nicht realistisch ein, da diese durch die eigene Bedürfnisbrille wahrgenommen wird. So kommt es zu verzerrten Interpretationen und es überrascht nicht, wenn Kinder sich selbst auch nicht mehr gut wahrnehmen können, sich selbst schlecht einschätzen und dann wiederum Konflikte mit anderen haben. So lässt sich auch erklären, warum Kinder, die sich selbst als durchschnittlich belastet einstufen, dies nicht immer sind. Vielmehr ist diese unangemessene Eigenwahrnehmung das Resultat einer dysfunktionalen Anpassungsstrategie.
Allerdings gibt es auch erhebliche Unterschiede zwischen Kindern, insbesondere zwischen Geschwistern. Je mehr ein Kind in den Elternkonflikt miteinbezogen ist oder war, desto stärker auch die Belastung. Von maximaler Belastung ist dann auszugehen, wenn das Kind einem Koalitionsdruck ausgesetzt ist, also wenn es mit dem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Wunsch eines Elternteils nach Kontaktverweigerung zum anderen konfrontiert ist. Dabei wird vom Kind erwartet, dass es sich dem hauptsächlich betreuenden Elternteil gegenüber solidarisch verhält.
Aber Kinder sind dem Elternkonflikt nicht nur ausgeliefert. Eigene Bewältigungsmechanismen und andere Ressourcen sind Schutzfaktoren, so z. B. Freundschaften, die einem Kind Anschluss an eine andere Familie verschaffen oder Verwandte, die das Kind ohne offensichtliche Parteinahme unterstützen und die streitenden Eltern durch Betreuungsleistungen entlasten (wenn diese das noch zulassen können).
Hochstrittigkeit und/oder Partnerschaftsgewalt?
Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis stehen Hochstrittigkeit und Partnerschaftsgewalt. Kindler (2013) geht der Frage nach, in welchem Ausmaß Trennungsverläufe nach Partnerschaftsgewalt als Untergruppe hochstrittiger Trennungsverläufe angesehen werden sollte. Dabei ist ein differenzierterer Blick auf die erste Gruppe hilfreich. Da gibt es zunächst die Fälle (leichterer) situativer Gewalt im Trennungskontext, ohne ausgeprägtem Machtgefälle, bei der Frauen und Männer als TäterInnen gleichermaßen repräsentiert sind.
Im Prozess der fortschreitenden Trennungsbewältigung wird von den überwiegend verbalen und psychischen Grenzverletzungen wieder Abstand genommen und es entwickelt sich bei diesen Eltern kaum eine hochstrittige Beziehungsdynamik.
Eine zweite Gruppe sind gewaltausübende Väter mit einer Suchtproblematik, die sich nach einer Trennung eher zurückziehen. Im Hinblick auf Hochstrittigkeit – und fortgesetzter Gewaltausübung – riskant sind jene (vorwiegend männlichen) Elternteile, die schon in der gemeinsamen Familienphase eine extrem dominierende und kontrollierende Partnerschaftsgewalt ausgeübt haben, und die als „Muster des intimen Terrors" (Johnson 2008, zit. n. Kindler 2011) bezeichnet werden kann. Diese Väter können schlecht zwischen dem Trennungskonflikt und der Vaterrolle unterscheiden und sind bestrebt Gerichte und andere Scheidungsprofessionen dafür einzusetzen, diese Kontrolle der Partnerin weiterhin auszuüben.
Überraschend (oder nicht?) ist in diesem Zusammenhang, dass Mütter auch in diesen Fällen mitunter bereit sind, Kontaktregelungen zuzulassen und Obsorge gemeinsam zu tragen und argumentieren das zum einen mit den Interessen der Kinder aber auch um den rebellierenden Vater zu besänftigen.
Hochstrittigkeit nach Partnerschaftsgewalt kommt vor, dürfte aber kein häufiges und typisches Muster sein. Dennoch ist auf der zugegebenermaßen dünnen Befundlage derzeit festzuhalten, dass Scheidungsprofessionen bei anhaltenden gerichtlichen Auseinandersetzungen (also Hochstrittigkeit) auch auf einen ernsthaften Hintergrund von Partnerschaftsgewalt stoßen können (Kindler 2013, S.123), da Partnerschaftsgewalt ein häufiger Trennungsgrund ist und Kinder mit dieser Erfahrung in der Regel hoch belastet sind.
Für die Beratungspraxis ist diese Differenzierung relevant, da sich die Interventionskonzepte danach unterscheiden. Es stellt sich daher für die Praxis die Frage, wer im Sinne des Kinderschutzes grenzverletzende vormals Gewalt ausübende Väter mit ihren übergriffigen Kontrollbedürfnissen in die Schranken weist, da auch nicht immer davon ausgegangen werden kann, dass dies die Mütter, welche Gewaltbeziehungen gelebt haben, tun. Im Interesse des Kindeswohls kann es auch gerade bei einem Hintergrund von Partnerschaftsgewalt vorrangig sein, die Beziehung zum hauptsächlich betreuenden Elternteil auch mit dem Instrument von Kontakteinschränkungen zu stabilisieren.
Verfügungsgewalt – die eher weibliche Form der Gewalt gegenüber Kindern im Kontext von Hochstrittigkeit
Alberstötter (2013) beschreibt ein Phänomen im Rahmen von Hochstrittigkeit, das viele Scheidungsprofessionen, insbesondere Gerichte und BesuchsbegleiterInnen beschäftigt. Es tritt den ProfessionistInnen meist entgegen als die Kontaktverweigerung eines Kindes gegenüber einem Elternteil. Wenngleich es im Einzelfall dafür gute Gründe geben mag, so fällt doch auf, dass dies einem häufig nicht in jenen Fällen begegnet, in denen BeraterInnen gute Gründe (z. B. erlebte Enttäuschungen, vgl. oben) konstatieren würden.
Im Gegenteil: Es finden sich nicht selten in Fällen von „guten Gründen für eine Kontaktverweigerung" gar keine Kontaktverweigerung, viel öfter jedoch in Fällen ohne „gute Gründe". Es geht darum, dass der hauptsächlich betreuende Elternteil mit seiner über das Kind verfügenden Macht direkt oder indirekt den getrennt lebenden Elternteil ausschalten möchte und vorgibt, bzw. tatsächlich davon überzeugt ist, dies im Sinne des Kindeswohls zu tun.
Die Kinder in solchen Konstellationen haben gerade einen Elternteil (fast) verloren und fürchten auch um den anderen, weshalb sie sich kaum noch im Sinne ihrer Bedürfnisse und Rechte, die sie nicht kennen und nicht spüren können, zu artikulieren imstande sind.
Alberstötter (s.o.) nennt dies Verfügungsgewalt und beschreibt drei Aspekte dieser:
- Deutungsmacht und Definitionshoheit über das Wohl und den Willen des Kindes. Hier, so der Autor, agiert der hauptsächlich betreuende Elternteil „wie eine Besatzungsmacht (...), die auf dem besetzten Territorium Kindeswohl die Alleinherrschaft beansprucht." (S. 120). Dagegen scheinen auf den ersten Blick auch Helfersysteme kaum eine Chance zu haben. Es herrscht eine Einbahnkommunikation der primären Elternfigur, nach der sich das Kind (oder ein Kind; bei Geschwister übernimmt oft ein Kind diese Rolle vermehrt) zu richten hat.
- Behinderungsmacht. Hier geht es um die Marginalisierung des zweiten Elternteils dadurch, dass er von vielen relevanten Lebensbereichen des Kindes (v.a. Gesundheit und Schule) ausgeschlossen wird.
- Herrschaft und Kontrolle über den Umgang – so noch einer stattfindet. Wird Umgang gewährt – oder ist er unumgänglich (z. B. weil Kinder sich nicht immer vollständig instrumentalisieren lassen, oder auf Grund gerichtlicher Verfügungen), so wird bis ins Detail vorgegeben wie dieser von statten zu gehen hat: was gemacht wird, wer dabei sein darf u.a.m.
In der Praxis tätigen Fachkräften wird es angesichts eines solch bizarren Szenarios, dass sich in diesen Fällen offenbart, oft sehr eng („ es stockt einem der Atem") und dennoch bleibt auch ein Staunen darüber, zu welchen Arrangements sich Menschen in Beziehungen einlassen. Und so verweist auch Alberstötter in seiner Schlussbetrachtung auf die wechselseitige Bezogenheit und persönliche Verantwortung beider Elternteile bei der Beziehungsgestaltung.
Dass auch eskalierenden und unversöhnlichen Trennungskonflikten ein gemeinsames Geworden-sein und eine Verbundenheit innewohnt, in der beide Opfer und TäterIn geworden sind, bleibt den Betroffenen meist verborgen. Hier braucht es zweierlei: eine systemisches Verständnis dieser gemeinsamen Geschichte inklusive einer empathischen Grundhaltung für diese Entwicklung des Familiengefüges wie es in Beratungskontexten üblich ist, aber auch eine Grenzen setzende und auch sanktionierende Haltung wie es im Gesetz vorgesehen ist und in der familiengerichtlichen Praxis üblich ist.
Wann überschreitet Hochstrittigkeit die Grenze zur Kindeswohlgefährdung?
Eskalierte Konflikte führen bei den Eltern in der Regel zu verminderter Erziehungsfähigkeit und die Dynamik eines hochstrittigen Elternkonflikts belastet Kinder. Darüber hinaus gefährden sie die Beziehung und/oder die Beziehungsqualität zu beiden Eltern. Die Situation der betroffenen Kinder ist geprägt von einem Klima extremer emotionaler Unsicherheit. Vor dem Hintergrund traumatheoretischer Erkenntnisse, kann diskutiert werden, „inwiefern die kindliche Erfahrung den Elternkonflikten hilflos ausgeliefert zu sein, als Form des Kindesmissbrauchs und Trauma gewertet werden kann" (Weber 2013, S. 149).
Die vielfältigen entwicklungsgefährdenden Auswirkungen von Hochstrittigkeit auf Kinder sind mittlerweile mehrfach, wenn auch nicht in allen Aspekten hinreichend beschrieben – Daten fehlen insbesondere für Jugendliche.
Entsprechend speziell und differenziert ist der Hilfebedarf, der in Österreich auch im KindNamRÄG 2013 Eingang gefunden hat. Basis für Hilfeangebote in Österreich ist seit Inkrafttreten dieses Gesetzes, bei dem kein Stein auf dem anderen blieb, die gemeinsame Obsorge als Standardform elterlicher Verantwortung und als Strategie Eltern Kooperation aufzuerlegen.
Mit der Definition des Kindeswohls anhand von 12 Kriterien wurde dieses erstmals konkretisiert und auch ein Instrument geschaffen, Grenzen für diese auferlegte Kooperation zu schaffen. Um die beschriebenen Entwicklungsgefährdungen abzuwenden, stehen nun neben den bisher etablierten Beratungseinrichtungen, den Maßnahmen und Hilfen des Kinder- und Jugendhilfeträgers (KJHT) nun auch die Familiengerichthilfe und BesuchsmittlerInnen sowie besondere Maßnahmen nach §107 Abs 3 AußStrG wie z. B. eine verpflichtende Erziehungsberatung zur Verfügung. Weitere auch bisher schon vorhandene Instrumentarien könnten zukünftig vermehrt zum Einsatz kommen: die Einsetzung eines Kinderbeistands, begleiteter Umgangskontakt.
All diese Maßnahmen und Konzepte sollen die unbestrittenen Entwicklungsrisiken von Kindern hoch strittiger Eltern minimieren. Eine Evaluation steht noch aus. Bislang ist aus der Sicht der Beratungs- und Kooperationspraxis nicht klar, inwieweit die hoch gelobten Kindeswohlkriterien taugliche Anhaltspunkte für eine Abklärung einer Kindeswohlgefährdung im Kontext von Hochstrittigkeit geben.
Aber auch die Expertisen der deutschen KollegInnen kommen zu dem Schluss, dass die Schwelle zu einer Kindeswohlgefährdung im gesetzlichen Sinne selten erreicht werden dürfte (Weber 2013a). Die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) hat in Deutschland eine 79 Seiten umfassende Handreichung für die Praxis (DJI 2010, vgl. auch bke 1/13) heraus gegeben, die Standards für die Arbeit mit hoch strittigen Eltern formuliert.
Als wichtigste Forderung gilt ein umfassender Einbezug des betroffenen Kindes um die jeweiligen individuellen Belastungsfaktoren zu erfassen und das Kind vor allem beim Aufbau und Erhalt von Selbstwirksamkeit zu unterstützen (zit. nach Weber 2013a, S. 161). Das bedeutet in vielen Fällen dass es (für Eltern kostenfreier) psychotherapeutischer und klinisch-psychologische Behandlungen bedarf. Es bedeutet aber auch, dass es eine gut koordinierte und hoch kompetente Hilfepraxis braucht. Denn es gilt nicht alles auszuprobieren bzw. die verschiedenen Instrumente abzuarbeiten, sondern passgenau Interventionen koordiniert und im Austausch miteinander – oft gegen die vordergründigen Interessen der Eltern zu etablieren, diese aber mitzunehmen. Diese Eltern haben – wie mehrfach erwähnt – ihre Kinder aus dem Blick verloren und können deren Bedürfnisse kaum einschätzen. Die meisten AutorInnen verweisen auch darauf, dass die Dynamik der Hochstrittigkeit sich leicht auf der Ebene der Hilfesysteme fortsetzt (am ausführlichsten: Kuehn-Velten 2013).
Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es im Einzelfall schwer ist, zu unterscheiden, ob „nur" die Erziehung im Sinne des Kindeswohl nicht gesichert ist, also ob es sich um eine Entwicklungsgefährdung handelt oder ob eine Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 22 Kinder- und Jugendhilfegesetzes (B-KJHG 2013) vorliegt, was bedeuten würde, dass Maßnahmen des KJHT zum Schutz von Minderjährigen erforderlich sind.
Gerber (2011) nimmt dazu aus der Sicht des Jugendamtes Stellung und weist in ihren Ausführungen zum Thema darauf hin, dass das Verfahren selbst zu einer Gefahr für das Kindeswohl werden kann. Die Möglichkeit, dass die Grenze zur Kindeswohlgefährdung in hochstrittigen Verfahren überschritten wird, sollte allen Beteiligten bewusst sein.
Das Jugendamt verfügt in vielen Fällen über deutlich umfangreichere biografische Informationen, und damit über differenzierte Einblicke und Einschätzungen der Lebenslagen der Kinder. Es sollte gewährleistet werden, dass dieses Wissen aus mehrjähriger Betreuungsarbeit in die Beurteilung des Falles durch die familiengerichtlichen Instanzen einfließt. Gerber sieht durchaus den KJHT als mögliche dritte Antrag stellende Partei in der Lage, in ein hochstrittiges Verfahren, das zu Lasten des Kindes geht, einzugreifen. Damit soll gewährleistet werden, dass ein hoch strittiges Verfahren, das im Hinblick auf das Kindeswohl zu entgleiten droht, mit geeigneten Auflagen unterbrochen werden kann, damit das Kindeswohl wieder in den Fokus rücken kann. Diese Auflagen können von der Aussetzung eines Kontaktes bis hin zur begleitenden Gestaltung eines Kontaktes über Auflagen der Erziehungshilfen und mehr reichen.
In allen Fällen bedarf es einer intensiven Arbeit mit den Eltern auf der Basis guter alter sozialpädagogischer Tradition. Diese braucht Zeit und Rahmenbedingungen wie sie auch das neu ambitionierte Gesetz nicht bringen kann. Schlussendlich geht es um die Qualität der Kooperation zwischen FamilienrichterInnen, RechstanwältInnen, den Verfahrensbeiständen und Sachverständigen, den Jugendamtsmitarbeiterinnen und den BeraterInnen, damit die Chance größer wird, die Ängste, Sorgen und Nöte der Kinder zu vermindern.
Literatur
Standardwerke
- (1) Walper S, Fichtner , Normann K (2011) Hochkonflikthafte Trennungsfamilien; Weinheim/München, Juventa.
- (2) Weber M, Alberstötter U, Schilling H (2013) Beratung von Hochkonflikt-Familien. Im Kontext des FamFG; Weinheim/Basel; Beltz Juventa.
- (3) Hötker-Ponath G (2009) Trennung und Scheidung – Prozessbegleitende Interventionen in Beratung und Therapie. Stuttgart, Klett-Cotta.
- (4) Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren (2013) Hochstrittige Trennungsfamilien - Aufsätze in: Traumatisierte Kinder, gewalttätige Jugendliche, hochstrittige Eltern. Lösungswege aus schwierigen Familienkonstellationen; Köln, Eigenverlag.
Zitierte Literatur
- Alberstötter U (2013) Gewaltige Beziehungen, in: (2)
- bke-Stellungnahme (2013) Beratung von Hoch-Konfliktfamilien im Kontext des FamFG; Informationen für Erziehungsberatungsstellen 1/13;.
- Bröning S (2011) Charakteristika von Hochkonflikt-Familien, in: (1)
- Gerber Ch (2011) Hochkonflikthaft Trennungen und Scheidungen aus der Sicht des Jugendamtes, in: (1)
- Fichtner J (2013) Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung in Hochkonfliktfamilien, in (4)
- Kindler H (2011) Apfel, Birnen oder Obst? Partnerschadtsgewalz, Hochstrittigkeit und die Frage nach sinnvollen Interventionen, in: (1)
- Kuehn-Velten J (2013) Hochstrittigkeit in Familien. Zugang. Haltung. Helferdynamik, in: (4)
- Weber M (2013a) Das Wohl des Kindes bei hoch strittiger Elternschaft, in: (2)
- Weber M (2013) Kinder im Spannungsfeld eskalierter elterlicher Konflike. Blick auf die Eltern, in: (4)
- DJI - Deutsches Jugendinstitut (2010) Arbeit mit hochkonflikthaften Trennungs- und Scheidungsfamilien: Eine Handreichung für die Praxis.
Weitere Literatur
- Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren (2011) Kinder im Spannungsfeld elterlicher Konflikte; Köln, Eigenverlag.
- Gaugl HJ (2016) Wenn Eltern sich streiten: Familienkonflikte Schlachtfeld oder Chance? Heidelberg, Springer.
- Hantel-Quitmann W (2015) Wenn aus Liebe Hass wird – Stress in Hochkonfliktfamilien, in: ders. Klinische Familienpsychologie; Stuttgart, Klett- Cotta, S. 190- 214.
- Holdt S / Schönherr M (2015) Lösungsorientierte Beratung mit getrennten Eltern: Ein Praxishandbuch; Stuttgart Klett-Cotta.
- Hötker-Ponath G (2009) Trennung und Scheidung – Prozessbegleitende Interventionen in Beratung und Therapie; Stuttgart, Klett-Cotta.
- Strobach S (2013) Scheidungskindern helfen: Übungen und Materialien; Weinheim/München, Beltz-Juventa.