THEMEN 2017
Sexuelle Übergriffe unter Kindern

Mag.a Gabriele Rothuber
Expertinnenstimme
Mag.a Gabriele Rothuber
Kindliche sexuelle Neugier sind etwa die Schau- und Zeigelust kleiner Kinder oder einvernehmliche „Doktorspiele". Dies sind Handlungen, die zur psychosexuellen Entwicklung gezählt werden, wie auch „öffentliche" kindliche Masturbation (wenn das Schamgefühl noch nicht ausgeprägt ist). Diese Körperlichkeiten werden von fast allen Kindern gelebt, wenn man sie lässt – sie brauchen jedoch einen Rahmen, für den wir Erwachsene Sorge tragen. So ist es etwa wichtig, dass Kindern suggeriert wird, dass Masturbation „etwas Feines" ist, man es aber nicht vor anderen Menschen tut (Sie schützen Kinder hier auch vor den Blicken Erwachsener), sondern wenn man alleine ist.
Bei den sog. „Doktorspielen" ist es wichtig, dass
- die Kinder, die sich gemeinsam erforschen, etwa den gleichen Entwicklungsstand haben / im selben Alter sind,
- nicht ein Kind sehr dominant oder grob ist,
- klar ist: jeder darf jederzeit aufhören / Stopp sagen,
- klar ist: niemand darf jemandem irgendetwas in Körperöffnungen stecken
- auch noch andere Spiele gespielt werden.
Dann kann man die Kinder auch „forschen" lassen – nicht ohne nachzufragen, ob das Spiel für alle auch so passt.
Diese Körperspiele können jedoch auch kippen: wenn zwei Kinder seit drei Tagen ihre Körper erkunden und am vierten Tag will das eine Kind nicht mehr, das andere jedoch drängt es dazu. Dann sprechen wir von einem Übergriff. Oder wenn ein Kind einen Stift als Fieberthermometer verwendet und in den Anus des anderen Kindes einführen möchte (weil es das zu Hause noch so erlebt) – dann sprechen wir von einer „gekippten Spielsituation" – plötzlich ist es für das Kind nicht mehr lustig.
Sexuelle Übergriffe können aber bereits von Kindergartenkindern bewusst herbeigeführt werden. Meist, damit sich das übergriffige Kind mächtig fühlt.
Und sexuelle Übergriffe werden auch von Kindern begangen, denen selbst sexuelle Gewalt angetan wurde. Diese Übergriffe haben meist etwas Zwanghaftes, sich Wiederholendes oder Reinszenierendes.
Wie sehen sexuelle Übergriffe unter Kindern aus? Was kann dazugehören?
Es gibt eine Reihe von sexuellen Handlungen, die nicht als normale kindliche sexuelle Aktivität bezeichnet werden können. Das ist dann der Fall, wenn
- ein Kind durch ein anderes gezwungen wird, seine Geschlechtsteile zu zeigen, die des anderen anzusehen oder anzufassen,
- ein Kind durch ein anderes zum Kuss gezwungen wird,
- einem Mädchen in die Brustwarzen, einem Jungen in die Hoden gekniffen wird,
- einem Kind gezielt zwischen die Beine oder an den Po gegriffen wird,
- ein Kind durch ein anderes durch Worte wie z. B. Fotze, Schlampe, Ficker oder Hurensohn beschimpft wird,
- Kinder Erwachsenensexualität „nachspielen" (meist haben diese Kinder Dinge gesehen, die nicht altersadäquat sind).
Was sind Merkmale eines sexuellen Übergriffs?
Die im Mittelpunkt stehenden Merkmale eines sexuellen Übergriffs unter Kindern sind Unfreiwilligkeit und Macht.
Ein sexueller Übergriff unter Kindern liegt dann vor, wenn sexuelle Handlungen durch das übergriffige Kind erzwungen werden, bzw. das betroffene Kind sie unfreiwillig duldet oder sich unfreiwillig daran beteiligt.
Sollten Sie direkt Zeug/In eines sexuellen Übergriffes werden oder ein Kind Ihnen von einem solchen erzählt, ist es wichtig, klar und deutlich Stellung zu beziehen. Das heißt, es sollte weder bagatellisiert („die Kinder machen sich das untereinander aus", „das gehört halt zum Erwachsenwerden dazu"), noch dramatisiert (d.h. einvernehmliche Handlungen sanktioniert) werden.
Vorgehen bei sexuellen Grenzverletzungen/Übergriffen unter Kindern
Mit den Kindern sprechen
- ungeteilte Aufmerksamkeit auf das betroffene Kind,
- wichtig ist, emotionale Zuwendung eines Erwachsenen, der ihm glaubt, es tröstet und zeigt, dass ihm das Thema nicht lästig ist,
- Fragen, warum es sich nicht gewehrt hat, müssen vermieden werden: sie vermitteln dem Kind, sich falsch verhalten zu haben und wecken Schuldgefühle,
- Deutlich sagen, dass sich das übergriffige Kind falsch verhalten hat und man sich darum kümmern wird, dass das nicht mehr vorkommt.
- im Anschluss das übergriffige Kind mit seinem Verhalten konfrontieren,
- „stimmt das?" „warum hast du das gemacht?" sollten unterbleiben: sie fühlen sich eingeladen, die Situation zu leugnen, anders darzustellen oder sich zu verteidigen – verzögert den Prozess der Einsicht und des Mitgefühls (= Voraussetzung zu einer authentischen Verhaltensänderung),
- betroffene Kinder haben keinen Grund, sich das auszudenken, übergriffige Kinder haben aber jeden Grund, das zu leugnen,
- Übergriffiges Verhalten muss bewertet und für die Zukunft strikt verboten werden,
- Nicht die Person, das Verhalten wird abgelehnt – es wird ihr aber zugetraut, das zu ändern,
- Wichtig: keinen Zweifel an der Entschiedenheit aufkommen lassen!
- Dies kann als Maßnahme genügen, bei jüngeren Kindern und denen, die zum ersten Mal so aufgefallen sind.
- Meist aber sind weitergehende Maßnahmen erforderlich: sie
- dienen dem Schutz der betroffenen Kinder,
- zielen auf Verhaltensänderung durch Einsicht & Einschränkungen (Strafen sollen abschrecken),
- schränken das übergriffige Kind ein – nicht das betroffene!
- Werden befristet, damit sich die Verhaltensänderung lohne,
- Müssen konsequent durchgeführt & kontrolliert werden,
- Brauchen die Kommunikation etwa im Team eines Kindergartens,
- Wahren die Würde des übergriffigen Kindes.
Vermeiden Sie die Begriffe „Täter/In" und „Opfer" – sie sind bei Kindern nicht angebracht und haben eskalierenden Charakter.
KINDERGARTEN oder SCHULE: ein Gespräch über den sexuellen Übergriff und die verhängten Maßnahmen zu führen, bedeutet, eine Chance zur Prävention zu nutzen! Die Kinder lernen so, dass man mit solchem Verhalten nicht durchkommt, sondern Konsequenzen zu erwarten hat. Sie erfahren auch, dass es Sinn macht, sich Hilfe zu holen.
„Der Mensch lernt schnell"
Kinder sollen erfahren, dass sexuell grenzüberschreitendes Verhalten nicht toleriert wird.
Betroffene Kinder brauchen Schutz, ihnen muss geglaubt werden und es muss dafür gesorgt werden, dass sie sich wieder sicher fühlen können. Eine wichtige Botschaft ist auch, dass sie erfahren, dass diese Übergriffe nicht „normal" sind – ein wichtiger Schritt in Richtung Opferprävention.
Übergriffige Kinder lernen: Erwachsene sehen hin und positionieren sich. „Mein Verhalten ist nicht ok und wird nicht geduldet".
Etwa ein Drittel der erwachsenen Missbrauchstäter/Innen gibt an, bereits im Jugend- oder Kindesalter sexuell übergriffig gewesen zu sein – und niemand habe sie gestoppt. Das Verhaltensmuster, sich durch sexuelle Handlungen an anderen mächtig zu fühlen, kann sich bereits bei kleinen Kindern festigen – ein Unterbrechen dieses Schemas bedeutet, sich als Erwachsener klar zu positionieren und täterpräventiv zu handeln!
Literatur
- Sexuelle Übergriffe unter Kindern: Handbuch zur Prävention und Intervention, Uli Freund
- Für Kinder: Wir können was, was ihr nicht könnt. Ein Bilderbuch über Zärtlichkeit und Doktorspiele. Ursula Enders
Mag.a Gabriele Rothuber, Geschäftsführung Verein Selbstbewusst, Dipl. Sexualpädagogin, Sexualberaterin, System. Traumapädagogin- und Fachberaterin
Links
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