THEMEN 2018
"Von einer zur anderen" - Biografie über transgenerationale Weitergabe von Gewalt in der Familie

Petra Szammer
Expertinnenstimme
Petra Szammer
Ein Kind wird von der eigenen Mutter jahrelang als emotionales Gegenüber missbraucht, um die erlittenen Traumata durch den 2. Weltkrieg, Flucht und Unterdrückung des eigenen Selbst, auszuagieren. Als sich die Mutter in einen jüngeren Mann verliebt, wird die Tochter verleugnet und beschädigt zurückgelassen. Dieses Kind war ich.
Mein Name ist Petra Szammer. Ich bin Gründerin eines Montessori- Privatkindergartens in Graz, Psychotherapeutin und Autorin. Ich habe lange gebraucht um eine Sprache zu finden, für Ereignisse, für die mir als Kind die Worte gefehlt haben.
Es gibt Erlebnisse, die so tief gehen, so verletzend, traumatisierend und schmerzhaft sind, dass sie in einem Leben nicht verarbeitet werden können. Die unverdauten Gefühle werden dann an die nächste Generation weitergegeben, bis sie in die Familiengeschichte integriert und verarbeitet werden können.
(S. Konrad, Das bleibt in der Familie)
"Wie hast Du Deine Kindheit überlebt?"
Meine Antwort:
Durch weitere Bezugspersonen. "In so einer schwierigen Situation, wie ich sie als Kind erlebt habe, braucht man einen Menschen der Zuverlässigkeit ausstrahlt und das Versprechen, dass alles wieder gut wird. Das war bei mir meine Großmutter väterlicherseits. Es ist bekannt, wenn ein Kind nur einen Menschen hat, der einen wahrnimmt, bestätigt und ab und zu in den Arm nimmt, dass das schon eine Basis ist, damit ein Kind gedeihen kann."
Raum für Phantasie und die Umsetzung der eigenen Ideen. Selbstwirksamkeit. „Das zweite Fundament war das Draußen sein in der Natur. Das war ein Freiraum, den in den 1970er Jahren noch fast alle Kinder gekannt haben. Dort konnte ich meinen Belastungen entfliehen. Freundschaften schließen und das Angenommensein in einer Gruppe erleben. Mich freispielen. Etwas, das ich mir vorgenommen hatte, aus eigener Kraft zu schaffen, dies führte, oftmals erlebt zu einer positiven Lebenshaltung."
Lesen und Schreiben. „Das war wie eine Offenbarung für mich. Faszinierend war, wenn ich Buchstaben aneinanderreihte und so Wörter entstanden mit denen ich Sätze bilden konnte. Ich konnte meine Wünsche und Träume aufschreiben, aber auch meine Ängste und Sorgen. Das war wie eine Rettung für mich. Heute weiß man, je komplexer Menschen ihre eigenen Emotionen beschreiben können, desto eher können sie diese auch regulieren und dadurch negative Emotionen besser verkraften."
Mein Bruder, der ersehnte Sohn, stirbt nach wenigen Jahren an einem Herzfehler. Nach der Geburt meines zweiten Bruders verlässt die Mutter die Familie. Sie nimmt alles mit was ihr gehört, nur meine Liebesbezeugungen lässt sie da. Ich bleibe als Dreizehnjährige beim Vater, der es gerade noch schafft, seiner Arbeit nachzugehen, wenngleich er jeden Abend im Wirtshaus seinen Kummer hinunterspült. Miteinander geredet über unsere Lage, über das Weggehen der Mutter haben wir nicht. Alles lief lautlos ab. Es gab keine Erklärungen. Kein Eingehen auf die kindliche Befindlichkeit. Keine Hinweise, wie es weitergehen könnte.
Auszug aus dem Buch Von einer zur anderen
Das kürzlich geführte Gespräch zwischen Papa und Oma kommt mir in den Sinn.
„Was ist los Hubert?"
„Es geht um das Besuchsrecht", höre ich den Vater leise sagen.
„Sie nimmt die Schuld auf sich, will aber, dass der Robert alle vierzehn Tage zu ihr kommt."
Hitze steigt in mir hoch.
Hat meine Mutter nur ein Kind? Warum spricht niemand mehr von mir?
Warum sind so viele Fotos von meinen Brüdern weg und warum hat sie kein einziges von mir mitgenommen?
Ich halte den Atem an und weiß im selben Moment Bescheid.
Meine Mutter verleugnet mich. War ich bisher verletzt, gekränkt und fühlte mich im Stich gelassen, so bin ich jetzt beschädigt. Ist es mir bisher gelungen, in meiner Mutter jemanden zu sehen, der Probleme hat, so bin ich jetzt überzeugt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ihr Verhalten wird identitätsverletzende und dauerhafte Folgen für mich haben. Ich werde mein ganzes Leben brauchen, um mich davon zu erholen.
(P. Szammer, Von einer zur anderen, S.96)
Auseinandersetzung
Erst mit dem Abstand der Jahre und sicherem Boden unter den Füßen konnte ich ein Verständnis dafür entwickeln, dass das Verhalten meiner Vorfahren in der politischen, religiösen und sozialen Unterdrückung, der sie ausgesetzt waren, begründet lag. Dass meine Mutter an mich weitergab, was ihr als Kind angetan worden war, und mich für das bestrafte, was sie gelernt hatte, in sich selbst abzulehnen und zu verachten.
Ich sollte begreifen dass sich Leid potenziert, je länger wir unsere Gefühle verdrängen, statt uns bewusst damit auseinanderzusetzen. Und dass es ohne Erinnerungsarbeit, ohne Erkenntnisse und Verhaltensveränderungen keine positive Identität des eigenen Lebens geben kann.
1988, als ich vierundzwanzig Jahre alt war, gründete ich einen Privatkindergarten. Mit meiner Kollegin beschäftigte ich mich mit der Frage, wie wir Kinder in ihrer Entwicklung gezielt unterstützen können, sodass sie ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln, weil wir wussten, wie schmerzhaft es ist, wenn man voller Zweifel am eigenen Wert aufwächst und sein Leben trotzdem meistern muss.
Begeistert setzten wir Schwerpunkte. Entschlossen uns, die Kinder mehr zu beobachten als ihnen Programme vorzugeben. Entwickelten ein feines Sensorium dafür, was sie uns zeigten und im Moment gerade brauchten. Wir stellten dementsprechende Angebote zur Verfügung. Sprachen Einladungen aus und ermutigten sie, die Dinge, die sie sich vorgenommen hatten, selbst zu schaffen. Spielerisch und durch gezielte Fragen führten wir die Kinder dazu, sich selbst zu spüren, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und diese auszusprechen. Stellten bei Kummer und Tränen immer einen Schoßplatz zur Verfügung, und statt abzulenken, bestätigten wir ihre Gefühle.
Das Kiga-Team vergrößerte sich und wir machten einander das Geschenk, uns gegenseitig mitzuteilen, was man in der jeweils anderen sieht, was man an ihr schätzt, was sie für einen auszeichnet. Wir warfen prüfende Blicke auf die eigene Rolle und den Einfluss den wir als Pädagoginnen, Betreuerinnen, Partnerinnen, und Mütter ausüben wollten. Wir waren uns einig, wir gehörten zur ersten Generation, die an einem neuen Beziehungsideal arbeitete, obwohl wir noch wenig Ahnung hatten, wie das funktionieren könnte.
Ich fühlte mich in meiner Tätigkeit wertgeschätzt und geachtet, aber der Schmerz über meine Erfahrungen holte mich immer wieder ein. So wohl ich mich in meiner Arbeit fühlte, ich kannte auch die Phasen tiefer Selbstzweifel und Verzweiflung. Der Glaubenssatz als Tochter nicht erwünscht und nicht liebenswert zu sein, wirkte tief in meiner Seele nach.
Wir Menschen streben nach Heilung unserer Wunden. Wir sehnen uns ein Leben lang nach dem, was wir als Kind gebraucht, aber nicht bekommen haben.
Der entscheidende Wandel kam durch Systemische - und Trauma-Therapie, in die ich mich immer wieder begab. Ich brach nicht ab und hielt aus, was sich mir im Prozess der Aufarbeitung zeigte.
Langsam wurden die Ereignisse meiner Kindheit für mich verständlicher und nachvollziehbarer, weil ich meine Geschichte und die meiner Vorfahren in einem größeren Zusammenhang sehen konnte. Ich hörte auf, mich zu fragen: Was ist da alles mit mir passiert? Fragte mich stattdessen: Welche Bedeutung will ich dem Ganzen geben?
Ich blieb auf dem Pfad. Machte selbst die Ausbildung zur systemischen Psychotherapeutin. Motiviert von der Erkenntnis, dass wir immer und überall vernetzt und Teil eines Systems sind. In unterschiedlichen Rollen, in denen wir uns stets neu definieren und mit dem, was wir tun oder unterlassen, immer auch beteiligt und mitverantwortlich sind. Und dass darin unsere Chance liegt, weil wir gestalten und uns verändern können, weil Probleme und Lösungen miteinander verbunden sind. Weil individuelle Probleme auch stets individuelle Möglichkeiten für die eigene Entwicklung in sich tragen.
Meine Geschichte kann nur so weit führen, wie ich in meinem Versöhnungsprozess selbst gekommen bin. Dieser ist immer noch im Gange, auch wenn ein Dialog, über die Zeit meiner Kindheit mit meinen Eltern immer noch nicht möglich ist.
In meinem Buch lasse ich die LeserInnen teilhaben an meiner Spurensuche und Aufarbeitung. An meinem Wandlungsprozess und der Erkenntnis, wie Gewalt entsteht und von einer Generation an die nächste weitergegeben wird.
Ich gebe Einblicke in meine Arbeit als Montessori-Pädagogin und systemische Familientherapeutin der die "Gewaltfreie Kommunikation" zugrunde liegt. Mit dem Ziel, ein Miteinander zu praktizieren, das einem friedvollen Zusammenleben dient und die Selbstachtung des Menschen fördert.
Petra Szammer, systemische Familientherapeutin, Montessoripädagogin und Gründerin des Privatkindergartens „Individuelle Kinderbetreuung" in Graz
Literatur
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[1] Konrad Sandra: Das bleibt in der Familie - Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten Piper, 2013
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[2] Wardetzki Bärbel: Weiblicher Narzissmus - Der Hunger nach Anerkennung Kösel-Verlag, 1991
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[3] Gruen Arno: Wider den Gehorsam Klett-Cotta, 2014