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zusammenLeben ohne Gewalt

THEMEN 2018

Wenn die Kindheit weh tut - Wie mit Misshandlung und sexueller Gewalt leben

Portrait Josef Hölzl MSc

Josef Hölzl MSc

Expertenstimme

Hölzl Josef MSc

Beratungsnotitzen

Peter, 43, kommt auf Empfehlung in die Beratungsstelle, weil er Zeiten erlebt, wo ihn die Erinnerungen an eine "schwierige Zeit" - wie er sie nennt, quälen. Immer dann, wenn in den Medien von Misshandlung und sexuellen Missbrauch von damals die Rede ist, merkt er Beklemmung, Verwirrung, eine stumpfe Wut und andere "komische" Gefühle.

Rasch macht er sich ein paar Bier auf und geht ins Internet um sich abzulenken. Außerdem glaubt er, dass "seine Geschichte" damals im Internat vor über dreißig Jahren gar nicht so schlimm war. Es ist ja ein paar anderen Mitschülern auch passiert, dass sie nach dem Turnunterricht von älteren Schülern gequält wurden und der eine Betreuer hatte es ja nicht nur auf ihn abgesehen.

Während Peter so wage und scheinbar sachlich von damals erzählt, ist er hin- und her gerissen zwischen dem Versuch, seine Erinnerungen zu verharmlosen und tiefer emotioneller Betroffenheit. Er merkt, dass die Erinnerungen an diese "schwierige Zeit" immer mehr und ganz unerwartet Verwirrung und Beklemmung auslösen.

Im Laufe der Gespräche bekommen diese "komischen" Gefühle Namen, werden fassbar und verstehbar. Schuldgefühle, Scham, Schmerz vermischen sich mit Zorn, Hass und Verwirrung und auch Rachegefühlen.

Dieser "Gefühlsmix" wird nicht so geordnet wahrgenommen, wie es in der Reflexion und im Gespräch vielleicht erscheinen mag, sondern ein Durcheinander von inneren Regungen und undefinierbaren Impulsen macht sich breit. Wahrgenommen wird es als Unlust, als dumpfes Frustgefühl, gelegentlich als Antriebslosigkeit und manchmal zeigt sich dieses Erleben in einer plötzlichen Gereiztheit.

Symptomatisch dabei ist, dass es Peter, den Klienten plötzlich, scheinbar wie aus heiterem Himmel, überkommt. Tatsächlich gibt es Auslöser, die diese meist tief verdeckten Bilder, Erinnerungen und damit verbundene Gefühle plötzlich an die Oberfläche bringen. Dieser "Erinnerungsmix" wird zum "Störenfried" des aktuellen Lebens. Er zeigt sich derart, dass gerade in Situationen, wo Nähe und Intimität aber auch konfliktreiche, konstruktive Auseinandersetzung notwendig ist, diese von oft destruktiver Energie, die mit dem aktuellem Erleben meist wenig zu tun hat, blockiert wird.

Erst die bewusste Wahrnehmung, Sondierung und Benennung dieser Gefühle helfen Peter, sie erstmals annehmen und einordnen zu können. Das geschieht jetzt nicht in einer Stunde, sondern in einer längeren Auseinandersetzung und in einer ständigen Wiederholung und Neubenennung der Erlebnisse und der damit verbundenen Gefühle.

Hilfreich ist am ressourcenorientierten Ansatz, mit den Betroffenen - in unserem Fall mit dem Klienten - in jeder Beratungseinheit das aktuelle Leben zum Thema zu machen. Zum Thema insofern, dass es darum geht, wie erlebe ich mich jetzt in aktuellen Beziehungen - mit der Partnerin, mit meinen Kindern, mit Kollegen. Welche Spannungen und Konflikte bewegen mich jetzt/derzeit, welche Themen im aktuellen Leben, welche Enttäuschungen, Verletzungen und Kränkungen begleiten mich jetzt/derzeit, aber auch welche Pläne und Ziele bewegen mich aktuell.

Viele dieser verworrenen Gefühle wurden durch die Täter von damals verursacht, stiften aber Verwirrung im jetzigen Leben. Ein Bild wird hier hilfreich: Sie arbeiten wie ein Trojaner im Hintergrund und stören das aktuelle Betriebssystem ganz unvermutet und unvorbereitet. Im Fall von Peter wirken sie auf sein aktuelles Beziehungsleben, weil er Angst vor Nähe und Kontakt hat.

Missbrauch und Misshandlung hinterlassen nicht nur eine schwere Irritation in Bezug auf Umgang mit Emotionalität, Beziehungs- und Bindungssicherheit oder Suchtverhalten sondern auch auf die Bildung eines stabilen Selbstwertgefühls. Wer seinen Selbstwert nicht positiv erfahren hat, oder wem durch destruktive Erfahrungen die Bildung eines solchen nicht ausreichend geglückt ist, hat große Mühe im Erwachsenenalter seinen Wert zu erkennen.

Die Wiedererlangung eines "brauchbaren" Selbstwertgefühls unter jetzigen aktuellen Lebensbezügen ist ein wesentlicher Teil der Arbeit in Beratung und Therapie. Methodisch ist dies ein konsequentes, stark ressourcenorientiertes Arbeiten am aktuellen Lebens-und Beziehungsalltag um daraus eine Vision für eine gut lebbare Zukunft zu entwickeln, ohne das alte verdrängen, beschwichtigen oder umdeuten zu müssen, sondern vielmehr die alten, unseligen Kränkungen verarbeiten zu können.

Schritte die helfen können

Schritte, die Peter helfen können, die Erinnerung an das Geschehen von damals nicht mehr abwehren und verdrängen zu müssen, sondern besser verarbeiten zu können.

Ein Schutzraum

Er braucht einen Schutzraum, wo er von damals erzählen kann, wenn er das möchte und wo ihm geglaubt wird. Allerdings bestimmt er (der Klient) das Tempo und die Themen.

Zum Phänomen gehört ganz wesentlich, dass ihnen (dem Opfer) damals niemand geglaubt hat und er auch mit dieser Gewissheit lebte, dass er davon auch niemand erzählen darf. Einerseits, weil ihm die Täter das eindringlich verboten hatten, anderseits weil er trotzdem spürte/wusste, hier handelt es sich um ein Tabu.

Das Umfeld wollte darüber nichts wissen, sehr häufig auch nicht das naheliegende Umfeld - die eigene Familie. Damit wird ein nächstes schwieriges Themenfeld eröffnet. Wie kann jemand damit klar kommen, dass die eigenen Eltern möglicherweise Mitverantwortung hatten, weil sie das Kind nicht schützen konnten, weil sie das Geschehen nicht wahrhaben wollten.

Wut, Scham gegenüber den eigenen Eltern zu empfinden ist nicht nur ein nächstes Tabu, sondern gehört zu den schmerzhaften Erfahrungen, denen sich zu stellen eine besondere Herausforderung ist und behutsamer Begleitung bedarf. Die Wahrnehmungsfähigkeit wieder zu stärken bedarf nicht nur die behutsame Begleitung, sondern auch ein mutmachende Komponente, denn dem Geschehen und den damit verbundenen Gefühlen begegnen zu können, ist "wie in den Abgrund z schauen".

Der professionelle Begleiter steht mit am Rande des Abgrundes um dieses "hinabschauen" aushalten zu können - und es ist ein "hinunterschauen" und kein (neuerliches) hinuntergehen.

Die Opfer- und Täterdynamik verstehen lernen

Er war damals Opfer und ihn trifft weder Schuld noch Verantwortung für die Misshandlung und den Missbrauch, denn die liegt beim Täter.

Als Kind hatte er keine Möglichkeit sich zu wehren, denn er war von Erwachsenen abhängig. Die Frage heute kann auch sein: Nicht, was ist passiert, sondern was tut (heute noch) weh? Was hat auch damals so weh getan? Um die Opfer/Täterdynamik besser verstehen zu können, kann es hilfreich sein, die eigenen Verharmlosungsstrategien zu identifizieren.

Das wiederum bedingt eine Anerkennung der tiefen Verwundung, des zugefügten Leides von damals und aus heutiger Sicht gibt es immer noch Teile, die schmerzhaft sind und nicht verheilt sind, es womöglich nie ganz werden.

Zugang zu seinen Gefühlen finden

Scham, Schmerz, Traurigkeit, Angst aber auch Hass, Wut und Rachegefühle sind im Zusammenhang mit Missbrauch nicht ungewöhnlich. Solche Gefühle werden zur Bedrohung, wenn sie nicht sein dürfen, denn die Abwehr dieser "schweren" und unbeliebten Gefühle bewirkt, dass auch Freude, Lust, Zuversicht und Vertrauen sich nicht entfalten können.

Peter hat in seiner aktuellen Beziehung einen massiven Konflikt, denn es gelingt ihm nur sehr schwer, empathisch auf die Bedürfnisse seiner Partnerin zu reagieren. Mitgefühl ist ihm an sich sehr wichtig geworden, er kann aber bei Konflikten und bei dazugehörigen impulsiven/emotionalen Reaktionen der Partnerin bei sich kaum Empfindungen wahrnehmen.

Daraus resultierend wirft er ihr Kälte und "Kopflastigkeit" vor. (Er wirft ihr vor, was er wahrnimmt oder vielmehr nicht wahrnimmt) Gleichzeitig ringt er darum, selbst wahrgenommen und gesehen zu werden.

Peter schafft es im Konflikt nur sehr schwer, sich vorzustellen, dass die Aussagen der Partnerin - vor allem beim Formulieren von Bedürfnissen - ernst gemeint sind und für sie wahr sind. Er glaubt ihr nicht, weil er bei sich nichts zu verspüren meint. Es ist, wie wenn er um sich einen unsichtbaren Glassturz gelegt hätte.

Zudem traut er den Worten seines Gegenübers nicht. Diese Ambivalenz von hoher emotionaler Bedürftigkeit und der Sehnsucht nach Lebendigkeit - er weiß darum, er kann diese selbstreflektierend benennen - auf der einen Seite, und dem Misstrauen gegenüber ihren Selbstaussagen (die natürlich auch mal impulsiv, vorwurfsvoll sein können) ergeben eine destruktive Kraft, an der seine Beziehung zu scheitern droht.

Rechtliche Schritte oder der Gang zu einer Ombudsstelle

Mit dem Klienten zu überlegen, wieweit rechtliche Schritte oder der Gang zu einer Ombudsstelle für in hilfreich wären, sind dann angesagt, wenn er dieses Anliegen selbst bringt. Erfahrungsgemäß ist das fast immer Thema.

Fallbeispiel:

Eine heilsame Erfahrung für einen Mann war, wie er eine frühe Missbrauchserfahrung im Erwachsenenalter bei der Polizei zu Protokoll gab. Trotz der strafrechtlichen Verjährung wurde diese Missbrauchsgeschichte mit großer Sorgfalt protokolliert und es wurde anschließend der Täter ausgeforscht und aufgesucht. Der Täter wurde von diesem erfahrenen Beamten mit der damaligen Tat konfrontiert. Es wurde das Signal gesetzt, dass trotz strafrechtlicher Verjährung die Verantwortung für die Tat nicht verjährt ist. Sie liegt nach wie vor beim Täter und hört nie auf.

Es kann sein, dass er sie nie an sich nehmen wird, doch dieses Wissen um die "Zurückgabe" der Verantwortung an den Täter kann ein wesentlicher Schritt für die "Entwirrung" beim Opfer sein. Es wurde sichtbar gemacht, wo der Auslöser für die tiefe Verletzung liegt und wo die Verantwortung (und Schuld) hingehört.

Dieser Prozess der inneren Verantwortungsrückgabe kann auch wirken, wenn der Täter die Verantwortung für die Tat nicht nehmen will bzw. nicht mehr nehmen kann. Alle die glaubwürdigen und respektvollen Handlungen dieses Beamten, abseits vom Strafrecht, haben in diesem Fall Erleichterung und Klarheit beim Klienten/Opfer bewirkt.

Intensive Auseinandersetzung mit seinem Erleben

Durch die intensive Auseinandersetzung mit seinem Erleben - Ausgangspunkt ist sein gegenwärtiges Leben - kann der Klient Zuversicht gewinnen, dass er aktuell Zufriedenheit erlangen kann, die Erinnerung zwar nicht ganz weggeht, aber nicht mehr ständig sein Leben stören oder gar zerstören wird.

Ziel von Aufarbeitung kann sein

Das aktuelle (Beziehungs-)Leben soll weniger durch emotionelle "Flashbacks" beeinträchtigt werden und das Vertrauen in das Leben an sich und Bindungen im Speziellen kann wieder leichter möglich sein.

Es kann darum gehen, mit der Erinnerung leben zu können – und zwar in dem Sinn, dass sie ihre schmerzhafte Wirkung verliert. Die erlittene Verletzung kann meist nie vergessen werden, aber die Erinnerung daran wird nicht mehr von destruktiven Gefühlen begleitet sein.

Versöhnung mit dem Erlebten kann bedeuten: Trotz dieser unheilvollen Geschichte kann es ein lebenswertes Leben geben – auch in dem Bewusstsein: Diese Verletzung ist ein Bestandteil meines Schicksals, aber eben nur ein Teil.

Das ist möglich, wenn das aktuelle Leben subjektiv als grundsätzlich lebenswert empfunden wird. Allerdings geschieht das nicht von selbst und bedarf viel bewusster Arbeit, denn Zeit alleine heilt nicht alle Wunden. Professionelle Begleitung, Maßnahmen der Wiedergutmachung, gegebenenfalls Entschädigung sind nur ein Teil dieser Arbeit, wenn auch ein wichtiger.

Folgendem Brief ging ein Schreiben eines Betroffenen voraus, der jede Form der Veröffentlichung der Missbrauchsthematik als "Aufreißen" alter Wunden erachtet und dies ablehnt.

"Sehr geehrter Hr.

Sie fragen mich, was mich bewogen hat, eine Sequenz aus der Beratung mit ehemaligen Opfern zu beschreiben und zu veröffentlichen, so habe ich mehrere Beweggründe.

Eine wesentliche Erfahrung ist, dass die Auseinandersetzung in einem professionellem (therapeutischem) Beratungssetting Menschen mit diesen und ähnlichen Kindheitserlebnissen tatsächlich eine Hilfestellung ist, mit diesen Erinnerungen, den damit verbunden Gefühlen und möglichen Beeinträchtigungen so umgehen zu können, dass das aktuelle Leben leichter und lebenswerter wird. Das bestätigen Klienten und es machte mir Mut das zu formulieren.

Gleichzeitig ist mir bewusst, dass dies nur eine Form (unter vielen) der Bewältigung ist, denn für viele Menschen passt dies nicht und sie wählen einen anderen Weg der Verarbeitung oder auch des Überwindens. Es vergessen zu wollen und zu können ist eine Form/mögliche Strategie der Verarbeitung. Die Erfahrung mit den Betroffenen - das sind nur einige ausgewählte - zeigt auch, dass Vergessen letztlich kaum möglich ist - damit zu leben und zurechtkommen jedoch sehr wohl.

Ein anderer Beweggrund ist, ich will dadurch Menschen mit Opfererfahrungen ermutigen, den Schritt in eine (therapeutische) Beratungsstelle zu machen, das gilt vor allem für diejenigen, die sich schon länger mit solchen oder ähnlichen Überlegungen beschäftigen.

Wichtig erscheint mir, dass neben den vielen medialen, oft reißerischen und verkürzten Darstellungen auch ein fachlicher Aspekt zum Umgang mit Gewalt und Missbrauch zugänglich wird. Besonders auch in einer kirchennahen Öffentlichkeit, welche sich sehr wohl angesprochen fühlen darf, denn nicht wenige sind versucht die Gewalt, sexualisierte Gewalt und Misshandlung zu verdrängen bzw. wegzuschauen oder einfach zu meinen, das betrifft uns sowieso nicht. Durch einerseits verwirrende Darstellungen in der Öffentlichkeit und Verdrängen und Wegschauen auf der anderen Seite werden Opfer nicht unterstützt und Täter womöglich "geschützt" bzw. kommen nicht zu ihrer Verantwortung.

Allerdings tut es mir sehr leid, dass die Beschreibung der Thematik aus bei Ihnen neuerlich schmerzliche Erinnerungen anrührt, denn das ist keineswegs die Intention meiner Darstellung."

Hölzl Josef MSc, Linz, Dipl. Ehe-, Familien- und Lebensberater, Gewaltberater / Phaemoberater ®, Tätertherapeut / Phaemotherapeut (R), Lehrtätigkeit an der FH für Soziale Arbeit

Literatur

  • [1] Bange Dirk, Enders Ursula: Auch Indianer kennen Schmerz. Sexuelle Gewalt gegen Jungen. 2000
  • [2] Eders Ursula (Hrsg): Zart war ich, bitter war´s. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch. 2008
  • [3] Kastner Heidi: Täter Väter. Väter als Täter am eigenen Kind. 2009
  • [4] Lew Mike: Als Junge missbraucht - Wie Männer sexuelle Ausbeutung in der Kindheit verarbeiten können. 1997
  • [5] Wais Mathias, Galle´ Ingrid: ...der ganz alltägliche Mißbrauch. Aus der Arbeit mit Opfern, Tätern und Eltern. 1996
  • [6] Männer gegen Männer-Gewalt (Hrsg.): Handbuch der Gewaltberatung. OLE – Verlag, Hamburg, 2002
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