Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene

Kinder haben ein geschätztes zwei- bis dreifach höheres Risiko Gewalterfahrungen zu machen als Erwachsene (Ziegenhain et al. 2016). Kinder und Jugendliche erfahren Gewalt unabhängig von ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage, ihres kulturellen, religiösen oder ethnischen Hintergrundes mit unmittelbaren und langfristigen Folgen (u. a. UNICEF 2014). Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf vor Gewalt in jeder Form geschützt zu werden (UN-Kinderrechtskonvention Artikel 19). Gewalt an Kindern und Jugendlichen geschieht überwiegend im privaten Bereich der Familie und erfolgt durch Täter:innen die bekannt und vertraut sind. Mit zunehmendem Alter spielen bei Kindern und Jugendlichen als Täter:innen neben der Familie auch die Gruppe der Gleichaltrigen (Peers) sowie digitale Medien eine Rolle (Andresen et al. 2021, UNICEF 2017, Ziegenhain et al. 2016, UNICEF 2014, Kapella et al. 2011).

Zahlen zur Prävalenz von Gewalt an Kindern variieren weltweit und hängen von der zugrundeliegenden Definition und den verfügbaren Dokumentationssystemen ab (z. B. Kriminalstatistik, Kinder- und Jugendhilfestatistik). Bei den verfügbaren Zahlen muss daher von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. Eine der Hauptgründe, warum Gewalt gegen Kinder und Jugendliche noch immer nur zögerlich oder unvollständig aufgedeckt wird, liegt nach wie vor in dem Tabu, über Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu sprechen. Gewalt an Kindern und Jugendlichen geschieht überwiegend im privaten Bereich der Familie. Kinder und Jugendliche selbst sowie Vertrauenspersonen von Kindern und Jugendlichen müssen dieses Tabu überwinden, um die erfahrene Gewalt anzusprechen.

Eine allgemeingültige und universelle Definition von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche existiert nicht und kann nicht existieren. Gewalt an Kindern und Jugendlichen findet in einem sozialen, psychologischen und kulturellen Kontext statt, der in der Betrachtung von Gewalt und möglichen Veränderungen berücksichtigt werden muss und somit jede Definition, auch die gesellschaftliche Diskussion und Geschichte, widerspiegelt. Einen Meilenstein im Schutz von Kindern und Jugendlichen stellt die UN-Kinderrechtskonvention (1989) dar, in der der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt in Artikel 19, Absatz 1 festgeschrieben ist: „… um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut“.

Verschiedene Definitionen von Gewalt an Kindern und Jugendlichen

Sie definieren folgende Gewaltformen (zitiert und übersetzt von Ute Ziehgenhain. Siehe: Ute Ziegenhain, Anne Katrin Künster, Tanja Besier (2016). Gewalt gegen Kinder. Bundesgesundheitsblatt 2016 59:44–51. DOI 10.1007/s00103-015-2271-x):

  • Kindesmisshandlung: Einzelne oder mehrere Handlungen oder Unterlassungen durch Eltern oder andere Bezugspersonen, die zu einer physischen oder psychischen Schädigung des Kindes führen, das Potenzial einer Schädigung besitzen oder die Androhung einer Schädigung enthalten.
  • Körperliche Misshandlung: Die gezielte Anwendung von körperlicher Gewalt gegen das Kind, welche zu körperlichen Verletzungen führt oder das Potenzial dazu hat.
  • Sexueller Missbrauch: Jede durchgeführte oder versuchte sexuelle Handlung mit oder ohne direktem sexuellen Kontakt an/mit einem Kind.
  • Emotionale Misshandlung: Jedes absichtsvolle Elternverhalten, welches dem Kind vermittelt, wertlos, fehlerbehaftet, ungeliebt, ungewollt oder unnütz zu sein und damit dem Kind potenziell psychologischen oder emotionalen Schaden zufügt.
  • Vernachlässigung: Die mangelnde Erfüllung der grundlegenden körperlichen, emotionalen, medizinischen oder bildungsbezogenen Bedürfnisse des Kindes durch die Bezugsperson und/oder die mangelnde Gewährleistung der kindlichen Sicherheit durch unzureichende Beaufsichtigung oder die fehlende Herausnahme aus einer gewalttätigen Umgebung.

Für den Bereich der sexualisierten Gewalt werden je nach Kontext, Profession und Disziplin unterschiedliche Begriffe in der Theorie und Praxis verwendet. Neben dem Begriff der sexualisierten Gewalt wird von „sexueller Gewalt“, „sexuellem Missbrauch“, „sexueller Übergriffe“ oder auch „sexueller Ausbeutung“ gesprochen. Um sexualisierte Gewalt in seinem gesamten Spektrum zu fassen, unterscheiden viele Studien zwischen sexueller Gewalt im Sinne einer eher engen Definition, die einen eindeutigen sexuellen Körperkontakt fassen (z. B. ungewollte sexuelle Handlungen, versuchte und vollendete Vergewaltigung) und sexueller Belästigung, die alle schädlichen sexuellen Handlungen im Sinne einer weiten Definition (z. B. sexuell belästigende Bemerkungen und Verhalten, -Vorzeigen von pornografischem Material) fassen.

Definition nach Bange und Deegener

Eine umfassende und grundlegende Definition, die in Österreich z. B. auch vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) sowie der Schulpsychologie in ihren Unterlagen angewandt wird, ist von Bange und Deegener (1996):

„Der sexuelle Missbrauch ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kinde entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der/Die Täter/in nutzt seine/ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“ (Bange & Deegener 1996)

Definition vom Runden Tisch für Sexuellen Kindesmissbrauch (RTKM)

Der Runde Tisch für Sexuellen Kindesmissbrauch (RTKM) gibt in seinem Abschlussbericht keine Definition vor, sondern beschreibt in einer psychologischen-psychotherapeutischen Kategorisierung des sexuellen Kindesmissbrauchs zentrale Charakteristika: „1) eine sexuelle Handlung, 2) die mangelnde Einfühlung in das Kind (Grenzüberschreitung), 3) eine Abhängigkeitsbeziehung, 4) die Bedürfnis- und Machtbefriedigung beim Täter, 5) das Gebot der Geheimhaltung und 6) die Ambivalenz der Gefühle des Kindes. Wenn also ein Täter eine Situation bewusst ausnutzt, um auf Kosten eines Kindes durch eine sexuelle Handlung die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ist das sexueller Missbrauch“ (RTKM 2011: 11f).

Definition der Unabhängigen Beauftrage für Fragen des sexuellen Kindemissbrauchs in Deutschland

Die Unabhängige Beauftrage für Fragen des sexuellen Kindemissbrauchs in Deutschland definiert sexuelle Gewalt folgendermaßen:

„Sexuelle Gewalt ist jede sexuelle Handlung, die an Kindern und Jugendlichen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Bei Kindern, also unter 14-Jährigen, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie sexuellen Handlungen nicht zustimmen können – sie sind immer als sexuelle Gewalt zu werten, selbst wenn das Kind vermeintlich damit einverstanden wäre.“ (siehe Referenz am Textende)

Studien zur Verbreitung (Prävalenz) von Gewalt an Kindern und Jugendlichen

Umfassende Studien zur Verbreitung (Prävalenz) von Gewalt an Kindern und Jugendlichen liegen nur begrenzt vor (u. a. Demant & Andresen 2022, Sutterlüty 2022). Vor allem in Bezug auf sexualisierte Gewalt besteht bei spezifischen Vulnerablen Gruppen Nachholbedarf, weil diese bei Bevölkerungssurveys bzw. Studien häufig nicht oder nicht ausreichend vertreten sind (Jud & Kindler 2019: 7f):

  1. Kinder und Jugendliche die (zeitweise) ohne Eltern oder Bindungsperson in Einrichtungen untergebracht sind.
  2. Kinder und Jugendliche, die in ihrem Selbstschutz- und Mitteilungsfähigkeit über das Alters- und Entwicklungstypische eingeschränkt sind, z. B. aufgrund einer Beeinträchtigung und Behinderung.
  3. Kinder und Jugendliche deren Eltern oder ständige Bezugsperson in ihrer Schutzfähigkeit beeinträchtigt sind, z. B. durch eine Suchterkrankung, psychische Erkrankung oder gewichtige Probleme (Partnerschaftsgewalt, etc.).
  4. Kinder und Jugendliche deren familiäre Lebenssituation einen Zugang nicht verwandter Erwachsener zu ihnen einschließt, z. B. Stief- und Pflegefamilien).
  5. Kinder und Jugendliche die bereits schwerwiegende (sexuelle) Gewalterfahrungen gemacht haben. Dies trifft insbesondere auf Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen zu.
  6. Kinder und weibliche Jugendliche, die in stark patriarchalen oder durch Gehorsamkeitserwartungen geprägten Familienstrukturen aufwachsen.

Exemplarisch einige Zahlen

Exemplarisch einige Zahlen, um einen Einblick in die Gewaltprävalenz von Kindern und Jugendlichen zu erhalten – Fact:

  • Die WHO (2020) geht in ihren Schätzungen im Jahr 2020 davon aus, dass 1 von 2 Kindern im Alter von 2-17 Jahren zumindest eine Form von Gewalt im Jahr erlebt. 300 Millionen Kinder oder 3 von 4 Kindern im Alter von 2-4 Jahren erleben körperliche und/oder psychische Gewalt durch Eltern oder durch sonstige mit der Erziehung beauftragte Personen.
  • Für Österreich kommt eine Studie aus 2022 der Statistik Austria (Enachescu et al. 2022) auf eine Prävalenz von Gewalt in der Kindheit (vor dem 15. Lebensjahr) auf 40 % der Mädchen die psychische Gewalt durch die Eltern erlebt haben (27,7 % durch Vater, 29,5 % durch Mutter), 19 % der Mädchen die körperliche Gewalt durch Eltern erlebt haben (11,9 % durch Vater, 12,2 % durch Mutter), 7 % die sexuelle Gewalt in der Kindheit erlebt haben (95,6 % durch männliche Täter, 12,2 % durch weibliche Täterinnen – wobei 85,1 % der Frauen die Täter:innen kannten und diese aus dem Bekannten- und Familienkreis waren) und 41,7 % der Frauen haben in ihrer Kindheit Gewalt der Eltern untereinander miterlebt.
  • Eine Prävalenzstudie aus dem Jahr 2011 kommt in Österreich (Kapella et al. 2011) auf eine Prävalenz von sexueller Gewalt in der Kindheit (vor dem 16. Lebensjahr) bei der 27,7 % der Frauen von sexueller Gewalt in der Kindheit berichteten und 12,0 % der Männer. Im Rahmen dieser Studie wurde die sexuelle Gewalt etwas weiter definiert als in der Studie der Statistik Austria im Jahr 2022. Für die 16- bis 25-Jährigen kommt die Prävalenzstudie auf sexuelle Gewalterfahrungen seit ihrem 16 Lebensjahr auf 19,5 % bei Frauen und 7,6 % bei Männern.
  • Dunkelfeldschätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland etwa jede:r siebte bis achte Erwachsene in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlitten hat. Unter den Frauen ist jede fünfte bis sechste Frau betroffen (Unabhängige Beauftragte für sexuellen Kindesmissbrauch (2023).
  • Eine Überblicksstudie die 55 Studien der Jahre 2002 bis 2009 untersuchte, in denen Kinder direkt befragt wurden (unter 18 Jahren), kam zu dem Ergebnis, dass zwischen 8-31 % der Mädchen und 3-17 % der Jungen sexuelle Gewalt in der Kindheit (unter 18 Jahren) erlebten (Barth et al. 2013).
  • Sexualisierte Gewalt erleben Kinder primär durch Männer, aber auch durch Frauen. Wissenschaftliche Erkenntnisse deuten auf eine Verteilung von 80 % bis 90 % männliche Täter und 10 % bis 20 % weibliche Täter:innen (Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauch 2023). Eine Studie aus Deutschland kommt 2019 zu einem Verhältnis bei dem 10 % der Täter:innen bei sexualisierter Gewalt an Kindern Frauen sind (Gerke et al. 2020).

Referenz

Weiterführende Informationen zu Sexuelle Gewalt

Weiterführende Informationen zu Ritualisierte und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

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