Gefühle verstehen statt zuschlagen – Emotionsfokussierte Beratung in der Gewaltprävention
Ist man in Wut gefangen, scheint Gewalt oft der einzige Ausweg. Doch hinter jeder aggressiven Handlung steckt eine Emotion – und damit auch die Chance auf Veränderung. Emotionsfokussierte Beratung hilft, Gefühle zu verstehen, bevor sie außer Kontrolle geraten, und eröffnet Wege aus der Gewalt.
Autor: Robert Landertinger, MA, Berater und Psychotherapeut i.A.u.S. (Integrative Therapie) bei der Beratungsstelle Männerwelten Salzburg, Jugend am Werk, Erziehungswissenschaftler
Thema Dezember 2025
Josef sieht rot. Schon wieder. Schon wieder hat seine Frau diesen Blick, der ihn verurteilt, der ihm sagen will, was er falsch gemacht hat: "Du bist zu spät gekommen, wir hatten eine Vereinbarung. Du hast mir versprochen, an unser Essen zu denken", sagt sie und fragt ihn, was los ist, ob er sich wieder nicht im Griff hat. Sie meint, sie könne nichts dafür, wenn er sich nicht an Abmachungen hält. Und das Rot verdunkelt sich während er durch den Tunnel blickt, dessen Wände immer näherkommen, die ihn einengen, ihm den Atem rauben. Er muss ausbrechen, raus aus diesem Druck, raus aus dieser Spannung, die sich aufbaut und ihn übermannt. Sie will einfach nicht verstehen, wie es ihm geht und glaubt, sie könne urteilen. Sie sieht nicht, womit er zu kämpfen hat, weiß nicht zu schätzen, was er alles für sie tut. Was erlaubt sie sich? Niemand darf so mit ihm reden. Niemand hat das Recht, ihn so fühlen zu lassen, ihn abzuwerten, ihn zu verurteilen. Und mit jedem Gedanken wird dieses Gefühl stärker, der Druck heftiger, bis sich die Spannung in seinem ganzen Körper ausbreitet und ihn nur eine Flut der Aggression aus diesem Tunnel befreien kann. Endlich. Endlich wird es ruhiger und nur leise hört er ihre Stimme: "Bitte … nicht schon wieder". Denn er hat zugeschlagen. So wie Josef geht es vielen Männern. Gewalt innerhalb der Familie und innerhalb von Beziehungen ist keine Seltenheit und resultiert unter anderem aus dem fehlenden Vermögen, die eigenen Emotionen zu erkennen und zu kanalisieren. Josefs Beispiel ist allerdings nur eines von vielen, denn Gewalt hat viele Gesichter.
Gewalt kann sich auf unterschiedliche Weise zeigen, etwa durch körperliche Übergriffe, Drohungen, Eingriffe in die Entscheidungsfreiheit oder verletzende Worte. Egal wie sie auftritt, sie schafft ein ungesundes Machtverhältnis, in dem das Opfer unterdrückt wird. Was Gewaltformen gemeinsam haben ist, dass sie sowohl die betroffene Person als auch die Beziehung schädigen und dass jeder aggressiven Handlung eine Emotion zugrunde liegt. Solchen Aggressionen ausgesetzt zu sein kann langfristig psychische Belastungen wie Angstzustände, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen nach sich ziehen (Rakovec-Felser, 2014).
Hier setzt die emotionsfokussierte Beratung an. Sie unterstützt Betroffene dabei, die zugrunde liegenden Emotionen zu erkennen und konstruktiv zu regulieren. So lassen sich kritische Situationen entschärfen, und langfristig kann das Machtungleichgewicht zwischen Täter:in und Opfer reduziert werden.
Was passiert in der emotionsfokussierten Beratung?
In der emotionsfokussierten Beratung geht es sowohl um das Erkennen und Differenzieren von Emotionen als auch um den adäquaten Umgang mit ihnen in kritischen Situationen (Lammers, 2018).
Auch Emotionen mit negativer Valenz, also solche, die als unangenehm empfunden werden (wie etwa Wut oder Ärger), haben wichtige Funktionen: Sie signalisieren verletzte Bedürfnisse, zeigen an, wo Grenzen überschritten oder Bedürfnisse bedroht sind und können durch reflektiertes Handeln konstruktiv genutzt werden.
Ein zentrales Ziel der Beratung ist daher, Wut frühzeitig zu erkennen, zu dosieren und bewusst zu regulieren, anstatt unkontrolliert und impulsiv zu reagieren (Jacob, 2022).
Emotionen entstehen durch Situationen, Gedanken oder Erinnerungen und äußern sich oft körperlich. Diese Signale können genutzt werden, um eigene Gefühle besser zu verstehen und angemessen zu handeln. Aggressives Verhalten kann kurzfristigen Spannungsabbau bieten, führt aber langfristig zu negativen Konsequenzen und verschärft Konflikte (Lammers, 2018). Die Beratung unterstützt Klientinnen und Klienten dabei, Triggerpunkte zu identifizieren, Situationen richtig einzuschätzen und zwischen impulsiver Wut und reflektierter Handlung zu unterscheiden. Auf diese Weise lernen sie, ihre Emotionen bewusst auszudrücken, Bedürfnisse zu vertreten und Beziehungen weniger belastend zu gestalten (Eismann & Lammers, 2017).
Josef sieht rot. Schon wieder. Schon wieder steckt er in diesem Tunnel, fühlt den Druck, fühlt die Spannung und ihm gegenüber steht seine Frau. Doch diesmal erkennt er die Wut, er erkennt die Ohnmacht, fühlt die Traurigkeit und die Überforderung. Es ist unangenehm, übermannend. Er will einen Weg finden. Und wieder löst er sich mit einem Ruck aus dieser Spannung. Doch diesmal schlägt er nicht zu. Er weiß, er kann handeln und sagt "Mir geht es nicht gut." Und in diesem Satz liegt sein erster Schritt aus der Gewalt.
Literatur
-
Eismann, G., & Lammers, C.-H. (2017). Therapie-Tools Emotionsregulation. Weinheim: Beltz.
-
Jacob, G. (2022). Wut: Emotionsarbeit in der Psychotherapie. Weinheim: Beltz.
-
Lammers, C.-H. (2018). Emotionsbezogene Psychotherapie: Grundlagen, Strategien und Techniken (2., überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart: Schattauer.
-
Rakovec-Felser, Z. (2014). Domestic violence and abuse in intimate relationships from a public health perspective. Health Psychology Research, 2(3), 1821.