Refugium – Schutz und Begleitung bei Gewalt im Alter
Im neuen Projekt Refugium soll gewaltbetroffenen, älteren Menschen Schutz in akuten Not-situationen geboten werden. Refugium baut auf den Erfahrungen des Beratungstelefons von Pro Senectute Österreich auf und begleitet alle Beteiligten nachhaltig in ihrem Bestreben um eine Verbesserung ihrer Lebenssituation.
In Kooperation mit Polizei- und Sicherheitsbehörden, Gewaltschutzzentren, einschlägigen Beratungs- und Betreuungseinrichtungen, den mobilen Pflegediensten und informellen Netzwerken werden mittels Case Management Lösungsperspektiven erarbeitet und in Pilotprojekten in Oberösterreich und in Wien einem Praxistest unterzogen.
Autor und Autorin: Mag. Leopold Ginner, Diplomkrankenpfleger und Sozialwirt, Projektleiter des Forschungsprojekts Refugium bei Pro Senectute Österreich; Manuela Mittermayer, BSc, Soziologin, Dipl. Case Managerin nach ÖGCC, Projektassistenz im Projekt Forschungsprojekts Refugium bei Pro Senectute Österreich
Thema Dezember 2024
Ausgangslage
Die Dunkelziffer zu Gewalt in der Privatsphäre in Zusammenhang mit älteren und alten Menschen, insbesondere im Kontext von Betreuung und Pflege, wird als sehr hoch eingeschätzt.
Zunehmend zeigen sich Fälle von Gewalt in Privathaushalten mit älteren Menschen. 2023 wurde nach den Zahlen der Gewaltschutzzentren in Oberösterreich in 173 dieser Fälle ein Betretungs- und Annäherungsverbot seitens der Polizei ausgesprochen. In Wien war das in diesem Zeitraum 306 Mal der Fall.
Langjährige konflikthafte Familienbeziehungen, finanzielle Abhängigkeiten oder der moralische Druck zur Übernahme der Pflege zu Hause leiten oft die Entwicklung von Gewalthandlungen ein[1]. Im Kontext von Alter und Pflege ist in diesen Konstellationen eine Motiverweiterung bzw. eine Motivverschiebung für Gewalt zu beobachten. Narzisstische Kränkung, Macht- und Kontrollsucht, die bei Jüngeren oft Ausgang von Gewalthandlungen darstellen, treten zurück und gewaltgenerierende Ohnmachtsgefühle, persönliche Überforderung und chronische Überlastung gewinnen an Bedeutung. In vielen Fällen ist deshalb eine klassische Opfer-Täterbetrachtung nicht wirklich hilfreich. Denn häusliche Gewalt im Alter in Zusammenhang mit Betreuungs- und Pflegebedarf zeigt zusätzliche Dimensionen und Ursachen, die sich qualitativ von häuslicher Gewalt jüngerer Menschen unterscheidet.[2].
In einschlägiger Literatur werden im Wesentlichen vier hochrelevante Risikofaktoren[3] für Gewalt im Alter beschrieben:
- Starker Hilfebedarf und Demenz
- Isolierte Haushalte (gewollt oder ungewollt)
- Finanzielle Abhängigkeit, insbesondere der pflegenden von der gepflegten Person
- Suchtverhalten und andere psychiatrische Episoden
Für die Betroffenen - insbesondere bei hoher Betreuungs- und Pflegeintensität - stehen oft keine oder unzureichende ad hoc Schutzeinrichtungen zur Verfügung.
Angesichts der demografischen Entwicklung, bei der in den nächsten zwanzig Jahren die ersten geburtenstarken Jahrgänge in ein Alter kommen, in dem sie vermehrt Betreuung und Pflege benötigen, wird dieses Problem noch deutlicher spürbar werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung in guter Gesundheit liegt derzeit in Österreich lediglich bei rund 64 Jahren[4], Pflegebedarf ist aber einer der bedeutenden Risikofaktoren für Gewalt im Alter. Daher ist es dringend erforderlich, für die betroffenen Personengruppen praktikable Lösungen zu entwickeln und umzusetzen.
Um dieser Herausforderung zu begegnen, möchte Pro Senectute Österreich in Kooperation mit Polizei- und Sicherheitsbehörden, Gewaltschutzzentren, einschlägigen Beratungs- und Betreuungseinrichtungen, den mobilen Pflegediensten und informellen Netzwerken Lösungsperspektiven erarbeiten und diese in Pilotprojekten in Oberösterreich und in Wien einem Praxistest unterziehen.
Zielsetzungen
Ziel des Forschungsprojekts Refugium ist es, konkrete, altersadäquate Schutzmaßnahmen bei Gewalt in der häuslichen Pflege bzw. Gewalt in der Privatsphäre zu entwickeln und zu erproben und bei Erfolg deren Integration in die regulären Hilfsinstrumente zu empfehlen. Dafür soll ein multiinstitutionelles, lokales Netz gestaltet werden, das älteren, unterstützungs- und pflegebedürftigen Personen Schutz vor Gewalt im häuslichen Umfeld bietet und Unterstützung und Entlastung bei angespannten Pflege- und Betreuungsverhältnissen unter Hinzuziehung des gesamten Sozialraums ermöglicht. Mit einer fallbezogenen Koordination adäquater bestehender Hilfen und einer konzentrierten fallorientierten Begleitung sollen Betreuungslücken vermieden und eine nachhaltige Verbesserung erreicht werden. Die Betroffenen sollen dabei nach Möglichkeit in ihren angestammten Strukturen bleiben können. In Situationen, in denen dies nicht möglich ist, sollen niederschwellige akut verfügbare Lösungen gefunden werden. Im Fokus stehen dabei insbesondere Personen der Altersgruppe 65+, die Opfer von Gewalt sind oder selbst Gewalt ausüben.
Kurzfristige Ziele
- Entwicklung von tragfähigen, lokalen Kooperationen für Maßnahmen zur Unterstützung familialer Systeme in Hinblick auf Gewalt, Alter, Betreuung und Pflege, insbesondere bei Hochaltrigkeit.
- Entwicklung eines Modells für eine konzentrierte fallorientierte Begleitung.
- Ausrichtung der Pilotprojekte an zwei Standorten (urbaner Raum: Wien und ländlicher Raum: Oberösterreich), die in einer zweiten Projektphase durchgeführt werden.
Langfristige Ziele
- Setzen eines neuen Standards im Umgang mit Gewalt im Alter durch Miteinbeziehung von niederschwelligen Entlastungs- und Unterstützungsangeboten bei gewaltgenerierenden, altersspezifischen Krisensituationen
- Nutzung innovativer Zugangspfade (Instrumente und Tools) mit einem neuen Level an Niederschwelligkeit und Multiinstitutionalität
- Prävention von Gewalt im Alter durch verlässliche und dauerhafte Strukturen
- Einen Beitrag zu leisten zu einem gesellschaftlichen Bewusstsein in Hinblick auf eine höhere Sensibilität für Gewalt im Alter und ihre vielfältigen Ausprägungsformen.
Methodischer Rahmen
Das Projekt Refugium ist eine personen- und fallzentrierte Anlaufstelle für alle älteren und alten Menschen, speziell jene mit einem Unterstützungs- oder Pflegebedarf, die von häuslicher Gewalt betroffen sind.
Diese Anlaufstelle versteht sich als eine neutrale und unparteiliche Koordinierungsstelle, deren Aufgabe es ist, methodisch im Sinne eines Case Managements die jeweilige Situation und den Hilfebedarf zu klären, alle nötigen (auch parteilichen) Kooperationspartner einzubinden und die Situation koordinierend über eine multiinstitutionelle Zusammenarbeit zu entschärfen. Dieser Prozess findet im Rahmen eines Netzwerks von vorhandenen informell und formell Helfenden, sozialen Einrichtungen und Organisationen statt. Das Konzept des Case Managements sorgt für Kooperation, Koordination, für Kontrolle von Kosten und Qualität der Hilfen und Interventionen und wird dort angewandt, wo aufgrund multidimensionaler Problemlagen einzelne Einrichtungen überfordert sind.
Voraussetzungen für die multiinstitutionelle Zusammenarbeit
- Entwicklung von sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und geeigneten Verträgen mit sozialen Einrichtungen oder privaten Dienstleistern auf Gemeinde- oder Landesebene
- Evaluieren, wissenschaftliches Betrachten und Definieren der nötigen Ressourcen
Voraussetzungen für die Aufnahme in das Angebot von Refugium
- Anlassgebender Erstkontakt
- Akute Gewaltsituation: Kontaktaufnahme über Behörden oder Gewaltschutzzentren, polizeiliches Betretungs- oder Annäherungsverbot wurde ausgesprochen
- Eigenmeldung oder Meldung über Dritte: Kontaktaufnahme über Gewaltbetroffene oder Personen, die Gewalt beobachtet haben; dies können auch Pflegedienste, Community Nurses, Krankenhäuser, Beratungsstellen etc. sein
- Präventive Intervention: Kontaktaufnahme z. B. über Betroffene, pflegende Angehörige, mobile Hilfen, freiwillige Hausbesuche, sonstige Angehörige oder Freunde etc.
- Multidimensionale Problemlage: z. B. Alter, Pflegebedarf, Krankheit, Demenz etc. Vorhandene Einrichtungen stoßen an ihre Grenzen, insbesondere wenn es einen Pflege- oder Unterstützungsbedarf bei mindestens einer der betroffenen Personen gibt.
Vorgehensweise im Einzelfall
Das Projekt Refugium wird in verschieden Stufen aktiv sein - mehrere Prozesse müssen gleichzeitig verlaufen. Die größten kurzfristigen Herausforderungen sind die ad hoc-Unterbringung bei akutem, evtl. neuem Pflegebedarf, verbunden mit Fragen nach Ressourcen und Finanzierungsmöglichkeiten, sowie die möglicherweise geringe Kooperationsbereitschaft der Betroffenen.
- Sofortinterventionen – akute Fremdunterbringung, Organisation von provisorischen, schnell verfügbaren Pflegedienstleistungen
- Mittelfristige Interventionen – Sorgen für einen Übergang in erste dauerhafte Unterstützungssysteme und Übernahme der Finanzierung dieser Maßnahmen
- Langfristige Interventionen – Etablierung und Stabilisierung eines umfassenden Unterstützungsnetzes zuhause, eventuell auch dauerhafte Fremdunterbringungen, Nachbetreuung/Evaluierung - Langfristige Beobachtung der familialen Situation
Forschungsprojekt Refugium
Refugium ist ein Forschungsprojekt und wird vom Sozialministerium gefördert und vom Zentrum für Sozialwirtschaft wissenschaftlich begleitet.
2015 hat das Sozialministerium formuliert: "Alle rechtlichen und sozialen Initiativen zur Prävention von Gewalt, Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Diskriminierung im Alter müssen unter dem zentralen Gesichtspunkt einer bestmöglichen Wahrung der Selbstbestimmung und Würde der Menschen gestellt werden. Es ist noch stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, dass die Prinzipien der Menschenrechte für alte Menschen nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Die Verwirklichung dieser selbstverständlich klingenden Forderung stößt in der Praxis auf Hindernisse. Einerseits gibt es Dunkelfelder und Grauzonen, was die Einhaltung der geltenden gesetzlichen Bestimmungen betrifft, andererseits gibt es sozialstrukturelle und im zwischenmenschlichen Umgang liegende Problembereiche“.[5]
Auch dafür möchte das Forschungsprojekt Refugium entsprechend sensibilisieren.
Quellen
- [1] Vgl. dazu: Gewalt erkennen. Fragen und Antworten zu Gewalt an älteren Menschen, eine Broschüre des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Wien, 2021
- [2] Vgl. Gewaltschutz für ältere Menschen, Hrsg. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Verf. Dr. J. Hörl, Wien 2015
- [3] Suhr, Ralf and Kuhlmey, Adelheid. Gewalt und Alter, Berlin, Boston: De Gruyter, 2020.
- [4] Statistik Austria: Lebenserwartung in Gesundheit
- [5] Gewaltschutz für ältere Menschen, Hrsg. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Verf. Dr. J. Hörl, Seite 125, Wien 2015