Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Arbeitsbedingungen in den Kinderschutzzentren aus?

Portrait Angela Stivanello

Angela Stivanello hat im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Wien die Auswirkungen der COVID 19 Pandemie auf die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und die Belastungen für Familien untersucht, sowie die Folgen der Pandemie für die Arbeit in den Kinderschutzzentren. Auch wenn nun langsam die Rückkehr zur "neuen Normalität" in Reichweite rückt, lohnt sich ein Blick zurück auf die Herausforderungen, die sich vor allem zu Beginn der Pandemie in der Zeit des ersten Lockdowns stellten.

Autorin: Angela Stivanello ist Studentin der Bachelor Studiengänge Bildungswissenschaften und Psychologie mit Schwerpunkt Psychoanalytische Pädagogik und Klinische Psychologie

Thema Juli 2021

Seit mehr als einem Jahr begleitet uns Covid-19 mit vielfältigen Einschränkungen für unser privates und berufliches Leben. Die Auswirkungen der Pandemie auf die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und die Belastungen für Familien finden in der Öffentlichkeit immer mehr Gehör.  (Ärztezeitung: COPSY-Studie)

Doch welche Folgen hatte die Pandemie für die Arbeit in den Kinderschutzzentren? Die Auswirkungen auf die Kinderschutzarbeit werden nur wenig thematisiert. Auch wenn nun langsam die Rückkehr zur "neuen Normalität" in Reichweite rückt, lohnt sich ein Blick zurück auf die Herausforderungen, die sich vor allem zu Beginn der Pandemie in der Zeit des ersten Lockdowns stellten.

Befunde aus der Forschung zu diesem Thema sind nur spärlich auszumachen. Nadia Kutscher, Professorin an der Universität zu Köln, konstatiert, dass die Pandemie zwar im Bereich des Kinderschutzes ebenso wie im Bildungsbereich zu einem Digitalisierungsschub geführt hat, dies aber mit neuen Fragen verbunden ist.

So geht es zum einen um die Frage, wie Partizipation und Teilhabemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen auch bei digitalen Kommunikationsformaten erhalten werden können. Eine weitere Frage betrifft den Datenschutz und die Verantwortung, die den Trägern von Kinderschutzeinrichtungen dabei zukommt. Dabei geht es nicht nur um die Frage, welche Videotools dem Datenschutz entsprechen, sondern auch darum, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Computer und Diensthandys zur Verfügung zu stellen, damit sensible Klientendaten nicht auf privaten Geräten gespeichert werden

Zudem stellt sich die Frage, wie mit dem Spannungsfeld von Datenschutz und Vertraulichkeit auf der einen Seite und dem Grundsatz der Niederschwelligkeit auf der anderen Seite umzugehen ist. Schließlich führen die pandemiebedingten Einschränkungen an "die Grenzen des Privaten", da durch Videoberatung und -therapie der institutionelle Raum der Einrichtung verlassen wird und ein Eintreten in die privaten Räume der Klient:innen stattfindet.

Die letzten beiden Aspekte werden besonders brisant, wenn man an Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien denkt, in denen es keinen privaten Rückzugsort gibt oder in denen kein Smartphone oder ausreichender Internetzugang verfügbar ist. (Soundcloud: Covid-19)

Viele dieser Themen beschäftigen nicht nur Kinderschutzeinrichtungen, sondern auch andere psychosoziale Einrichtungen im Gewaltbereich. Eine besondere Herausforderung für die Kinderschutzarbeit bestand darin, dass Kinderschutz vorrangig Beziehungsarbeit ist, und die Mitarbeitenden im Frühjahr 2020 sehr kurzfristig Wege finden mussten, unterstützende Beziehungsangebote zu finden, die ohne direkten persönlichen Kontakt auskommen und auf digitalem Weg möglich sind.

Um das eingangs erwähnte Forschungsdefizit zu reduzieren und einen besseren Einblick in die Situation in Österreich zu gewinnen, wurde der Frage, wie Mitarbeiter:innen von Kinderschutzzentren diese Zeit erlebt haben, in einem Forschungsprojekt an der Universität Wien zum Thema "Pandemie und Kinderschutz" genauer nachgegangen. (Die Erhebung fand im Wintersemester 2020/21 am Institut für Bildungswissenschaft im Rahmen der Lehrveranstaltung "Praktikumsbegleitendes Seminar: Kinder- und Opferschutz als Feld pädagogischer Forschung" unter der Leitung von Mag.a Barbara Neudecker statt.)

Es wurde ein Fragebogen entwickelt, der nach dem zweiten Lockdown im Herbst 2020 an Kinderschutzzentren in ganz Österreich ausgesendet wurde. 25 Fragebögen konnten ausgewertet werden. Die Darstellung der Ergebnisse wird durch persönliche Mitteilungen von Kolleg:innen aus den Kinderschutzzentren ergänzt.

Ausgegangen wurde von der Annahme, dass die soziale Isolation von Familien, das Wegfallen vertrauter Strukturen wie Kindergarten und Schule (und damit aber auch das Wegfallen von Personen, denen sich Kinder mit ihren Problemen anvertrauen können), der Verlust von Tagesstruktur und finanzielle und existenzielle Ängste von Eltern zu einer Zunahme vor allem an körperlicher und psychischer Gewalt gegen Kinder führen. Dies wird mittlerweile auch in verschiedenen Publikationen untersucht (vgl. dazu etwa den World Vision-Bericht "A Perfect Storm" aus dem Jahr 2020).

Weiters wurde davon ausgegangen, dass es für gewaltbetroffene Kinder in der Pandemie noch schwieriger ist, Hilfe zu finden als in "normalen" Zeiten. Gleichzeitig waren soziale Einrichtungen vor allem im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 in ihrer Arbeit eingeschränkt – durch eingeschränkte Öffnungszeiten, Home Office, Kurzarbeit von Mitarbeiter:innen oder dem Ausfall von Mitarbeiter:innen, die einer Risikogruppe angehörten.

In vielen Einrichtungen wurden isoliert voneinander arbeitende "Subteams" gebildet, damit im Fall der Erkrankung einer Person nicht das gesamte Team in Quarantäne geschickt werden musste. Auch bei vielen Kinder- und Jugendhilfeträgern, die ein wichtiger Kooperationspartner in der Kinderschutzarbeit sind, waren Mitarbeiter:innen in Kurzarbeit und nur eingeschränkt erreichbar.

Teambesprechungen, ein wichtiger Beitrag zur Qualitätssicherung im Kinderschutz, konnten nur eingeschränkt und digital durchgeführt werden. In einer für Kinder und Jugendliche besonders schwierigen Zeit konnten also auch die Kinderschutzzentren ihre Arbeit nur unter erschwerten Bedingungen durchführen.

So wurde bei der Konzeption des Fragebogens von der Hypothese ausgegangen, dass der durch die Pandemie veränderte Arbeitsalltag eine große Umstellung und Belastung für die Mitarbeiter:innen von Kinderschutzzentren darstellt. Weiters wurde vermutet, dass auch persönliche Belastungen der Mitarbeiter:innen sich erschwerend auf die Arbeit mit Kindern und Familien auswirken. Es stellte sich die Frage, ob dies bei den Mitarbeitenden zu einer Verunsicherung führte, dass die subjektiv verfügbaren Kompetenzen unter den erschwerten Bedingungen möglicherweise nicht ausreichen, um gute Kinderschutzarbeit zu gewährleisten.
Die Datenauswertung zeigt jedoch, dass nicht alle Annahmen erfüllt worden sind.

Erschwerte Arbeitsbedingungen durch die Corona-Krise

Wie erwartet, stellten die neuen Arbeitsbedingungen zu Beginn der Pandemie für fast alle Befragten eine große Umstellung dar. Der geringe persönliche Kontakt mit Kindern und ihren Eltern vor allem im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 erschwerte die Arbeit in vielerlei Hinsicht:

In der Phase des ersten Lockdowns erlebten viele Einrichtungen, dass trotz der vermuteten höheren Belastung von Familien und der damit verbundenen vermuteten Zunahme an Gewalt kaum neue Fälle "hereinkamen". Dies führte bei vielen Mitarbeiter:innen zu Sorge um die Sicherheit und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bzw. zu einer angespannten Erwartungshaltung, dass es nach einer Reduktion der Fallzahlen zu einer "Explosion" an neuen Fällen kommen könnte. Die Fachkräfte der Kinderschutzzentren waren sehr bemüht, den Kontakt zu Kindern und Familien, die bereits in Betreuung waren, aufrechtzuerhalten. Dies gelang in vielen Fällen, aber nicht in allen.

In den unterschiedlichen Settings der Kinderschutzarbeit stellten sich verschiedene Herausforderungen:

Beratungsstunden mit Eltern, die telefonisch oder über Video stattfanden, waren oft dadurch erschwert, dass es für viele Mütter und Väter kaum Möglichkeiten gab, eine Stunde ungestört zu sprechen, da die Kinder den ganzen Tag anwesend waren.

Psychotherapeutische Sitzungen vor allem mit jungen Kindern sind über Video kaum möglich, weil dies eine Überforderung der Kinder darstellt. Zudem kann der geschützte Rahmen einer Therapie über Video oft nicht gesichert werden, wenn nicht auszuschließen ist, dass Eltern oder Geschwisterkinder ins Zimmer kommen.

Die Arbeit der Prozessbegleitung war im ersten Lockdown davon geprägt, dass auch Kriminalpolizei und Gerichte ihre Tätigkeit weitgehend einstellten und für die Klient:innen völlig unklar war, wie lange es dauert, bis in ihrem "Fall" etwas weitergeht.

Von mehreren Befragten wurde angegeben, dass Termine, die vermehrt online stattfanden, öfters abgesagt wurden als persönliche Termine vor Ort. Ebenso gab es häufiger Probleme bei der Koordination und Durchführung von Beratungsterminen und Therapiestunden, da in vielen Kinderschutzzentren sowie bei den betroffenen Familien Zuhause die nötige technische Ausstattung (funktionierende Computer/Laptops, eine stabile Internetverbindung, Webcams etc.) fehlte.

Auch weiteren Systempartner:innen der befragten Mitarbeiter:innen fehlt es an entsprechendem technischem Equipment, was sich negativ auf die Prozessgestaltung auswirkte und diese verzögerte.

Viele Einrichtungen waren zunächst damit beschäftigt, sichere Tools für Videokonferenzen anzuschaffen (und häufig arbeiteten Einrichtungen mit unterschiedlichen Tools, die als datenschutzkonform eingeschätzt wurden). Dies war ebenso wie die Aufrüstung der Hardware mit zeitlichem Aufwand und erhöhten Kosten verbunden.

Software, die den Anforderungen der Datensicherheit genügt, war aber für viele Klient:innen nicht verfügbar oder es war für sie schwierig, entsprechende Apps zu handhaben, wodurch schließlich doch oft wieder auf unsichere Verbindungen wie Whatsapp oder Facetime zurückgegriffen werden musste. Viele Mitarbeiter:innen der Kinderschutzzentren arbeiteten (so wie auch in vielen anderen psychosozialen und pädagogischen Einrichtungen) von daheim mit dem eigenen Computer oder Smartphone, um den Kontakt aufrechtzuerhalten.

Auch wenn Präsenztermine abgehalten werden konnten, kam es zu besonderen Herausforderungen. Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes erschwert den Beziehungsaufbau zu Kindern. Durch das Abdecken der Mimik fehlt den Mitarbeitenden wichtige nonverbale Information über die Emotionalität und Befindlichkeit der Klient:innen.

Auch für Kinder und Jugendliche stellt das verdeckte Gesicht der Ansprechpartner:innen ein Kommunikationshindernis dar. Das führt dazu, dass vor allem junge Kinder weniger schnell Vertrauen fassen können.

Nach dem ersten Lockdown wurden Hygienekonzepte und Schutzmaßnahmen erarbeitet, um in möglichst hohem Ausmaß wieder persönliche Termine anbieten zu können. Damit waren oft große logistische Anstrengungen verbunden. Bei der Terminkoordination war zum Beispiel darauf Bedacht zu nehmen, dass im Wartebereich des Kinderschutzzentrums nicht mehr als eine Begleitperson anwesend ist. So konnten Eltern, die ihr Kind zu Therapiestunden brachten, in den kalten Monaten häufig nicht in der Einrichtung warten, sondern mussten draußen in der Kälte spazieren gehen. Auch Termine bei Polizei und Gericht, die im Rahmen der Prozessbegleitung regelmäßig vorkommen, waren durch die eingeschränkten Wartemöglichkeiten erschwert.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass über die Hälfte der Befragten ihre neuen Arbeitsbedingungen als sehr belastend empfand.

Hohe Professionalität der Mitarbeiter:innen

In der Befragung gaben die meisten Befragten an, dass der geringere Kontakt mit Kindern und Eltern eine große Umstellung in ihrer Arbeit bedeutete. Trotz dieser massiven Umstellungen und Erschwernisse hatten mehr als 80% der Befragten das Gefühl, ihre Arbeit immer noch wirkungsvoll ausführen zu können. Allerdings erlebten mehr als zwei Drittel der Befragten ihre Tätigkeit als belastender. Vereinzelt wurde angegeben, dass es schwieriger war, den Arbeitsalltag zu strukturieren oder dass man sich rascher gereizt fühlte. Gleichzeitig gab nur ein Drittel der Befragten an, weniger Freude an der Arbeit zu haben als vor der Pandemie.

Trotz der persönlichen Belastungen und erschwerten Arbeitsbedingungen hatten die Befragten offenbar keine Schwierigkeiten, das eigene Befinden von ihrer professionellen Haltung zu trennen, da alle angaben, dass sich das eigene Befinden nicht negativ auf die Beziehung zu den betreuten Kindern oder Eltern auswirkte. Das spricht für die hohe Professionalität der Mitarbeiter:innen im Kinderschutz.

Allerdings befürchten 44 % der Befragten negative Auswirkungen für Kinder und ihre Familien auch nach dem Ende der Pandemie. Die psychosozialen Folgen der Pandemie für Kinder und Familien werden die Kinderschutzzentren also auch in den kommenden Jahren noch beschäftigen. Weitere Forschung wäre wünschenswert, um die langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche und die damit verbundenen Folgen für die Kinderschutzarbeit besser abbilden zu können.

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