Gewalt unter Geschwistern

Neben den Eltern und der Gruppe der Gleichaltrigen (Peers) stellt die Beziehung zu den eigenen Geschwistern einen wichtigen Entwicklungskontext für Kinder und Jugendliche dar. Gewalt innerhalb von Geschwisterbeziehungen ist kein seltenes Phänomen, allerdings kein gut erforschtes und oft tabuisiertes Thema (Bertele & Talmon 2023, Demant & Andresen 2022, Witt & Fegert 2019).

Gewalt unter Geschwistern betrifft die unterschiedlichen Formen von Gewalt.

Unter Geschwistermobbing wird verstanden, wenn ein Kind ein anderes Geschwisterkind regelmäßig, wiederholt und mit Absicht emotional bzw. seelisch (Anschnauzen, Ausgrenzen, Gerüchte verbreiten, vor den Eltern schlecht machen, etc.), körperlich (Schubsen, Schlagen, etc.) oder sozial verletzt und ein Machtunterschied zwischen den Geschwistern gegeben ist. Ein Machtunterschied ist real aufgrund von z. B. Alter, Stärke oder Größe gegeben oder ein Machtunterschied wahrgenommen wird, z. B. ein Kind hat die Unterstützung der Eltern oder kann sich nicht wehren (Wolke et al. 2015). Je nach Studie und Definition fanden Wolke et al. (2015) Prävalenzen von 15-50 % der Kinder und Jugendlichen die Bullying durch Geschwister erleben bzw. 10-40 % die angeben, ihre Geschwister zu mobben. In einer bevölkerungsrepräsentativen Studie aus Deutschland geben 12,8 % der Respondent:innen an, mindestens einmal im Monat von ihren Geschwistern absichtlich verletzt oder gemobbt worden zu sein (Witt & Fegert 2019). Eine Studie aus den USA (Tucker et al. 2014) kommt auf eine höhere Prävalenz von Gewalt unter Geschwistern in der Kindheit, als in der Jugend (33 % versus 14 %).

Eine weiter stark tabuisierte Form ist die sexuelle Gewalt unter Geschwistern. Sexuelle Gewalt unter Geschwistern kann folgendermaßen definiert werden: Ein sexuelles Verhalten zwischen Geschwistern, welches nicht altersgerecht, nicht vorübergehend und nicht durch entwicklungsbedingte und angemessene Neugier motiviert ist (Morrill 2014: 206). Aufgrund der wenig vorhandenen Daten und der Erforschung kann zum Ausmaß sexueller Gewalt unter Geschwistern nur bedingt etwas gesagt werden (Klees 2018b). So beschreibt z. B. der US-amerikanische Bericht über Gewalt an Kindern (US Department of Health and Human Services Child Maltreatment Report 2014) dass 2,3 % der Kinder sexuelle Gewalt durch Geschwister erleben (Caffaro 2017).

Sexuelle Gewalt unter Geschwistern kann aus den unterschiedlichsten Handlungen bestehen, z. B. unangemessene Liebkosungen, Geschlechtsverkehr, versuchter Geschlechtsverkehr, Berühren des Genitalbereiches direkt oder durch die Kleidung, Exhibitionismus, Zeigen oder Herstellen von Pornografie, Kinderprostitution (Caffaro 2017, Morrill 2014).

Die häufige Leugnung, die Bagatellisierung bzw. das Tabu über sexuelle Gewalt unter Geschwistern zu sprechen hat unterschiedliche Ursachen:

  1. In den meisten Gesellschaften besteht ein Inzestverbot bzw. Inzesttabu,
  2. die fehlende Anerkennung des Einflusses von Geschwisterbindungen auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen,
  3. Ausschluss aus Studien, z. B. aufgrund einer Definition von sexueller Gewalt die einen Altersunterschied von Täter:in und Betroffenen von zumindest fünf Jahren vorsieht,
  4. Betroffene können selbst nicht erkennen, dass die Handlungen einen ausbeuterischen Charakter haben,
  5. erlernte Geheimhaltung,
  6. ambivalente Gefühle und Verstrickungen der Betroffenen,
  7. Loyalitätskonflikte der Eltern,
  8. Bagatellisierung der Auswirkungen oder (9) auch vorschnelles Abtun als „Doktorspiele“ (Kless 2018a).