Hochaltrigkeit, eine individuelle und gesellschaftliche Kulturleistung zwischen Autonomie, Schutz und Selbstvernachlässigung
Leopold Ginner untersucht die Frage, ob Hochaltrigkeit eine komplexe kulturelle Leistung ist. Dabei wird die Spannung zwischen Autonomie, Schutz und Selbstvernachlässigung, die mit dem Alterungsprozess verbunden sein kann, betrachtet. Die Bedeutung und Auswirkungen des Alterns auf individueller und gesellschaftlicher Ebene werden erforscht.
Autor: Mag. Leopold Ginner, Diplomkrankenpfleger und Sozialwirt mit Arbeitserfahrung auf einer chirurgischen Intensivstation, als Sozialarbeiter, Schulleiter einer Schule für Sozialbetreuungsberufe, als Heimleiter eines Alten- und Pflegeheimes und seit 2021 als Berater im Feld "Gewalt und Alter".
Thema Juni 2023
Altern ist heute etwas ganz anderes als es in vergangenen Zeiten war und ist vermutlich in der bekannten Prävalenz historisch einzigartig. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert die einzelnen kalendarischen, chronologischen Lebensspannen des Alterns wie folgt:
- 51 – 60 Jahre alternde Menschen
- 61 – 75 Jahre ältere Menschen
- 76 – 90 Jahre alte Menschen
- 91 – 100 Jahre sehr alte Menschen
- > 100 Jahre Langlebige
Ein hohes Alter zu erleben, wird immer häufiger und aufgrund weniger Nachkommen und höherer Lebenserwartung im Alter gehört die Gruppe der 80+ zur am schnellsten anwachsenden Altersgruppe. Hochaltrigkeit ist sozialwissenschaftlich nicht einheitlich definiert. In dieser Abhandlung bezieht sich der Begriff auf die Gruppe der 80+.
Personen mit "riskantem" Lebensstil sind häufig schon früher verstorben. Bei den Überlebenden handelt es sich entweder um Personen, die ihr Leben lang einen eher gesünderen Lebensstil pflegten, oder robust genug waren, die allfälligen schädlichen Auswirkungen riskanter Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu kompensieren. Die stärksten Selektionsprozesse scheinen sich demnach bereits vor Erreichen eines hohen Alters von 80+ zu vollziehen.
Hohe Heterogenität auch unter den Hochaltrigen
Untersuchungen bestätigen, dass das hohe Alter als Lebensphase, wie auch die Lebensumstände in diesem biografischen Abschnitt enorm vielschichtig und heterogen sind.
Das gängige Bild vom hohen Alter, das in hohem Maße mit körperlichen und geistigen Verlusten und in weiterer Folge mit Pflegebedürftigkeit verbunden wird, erweist sich mit Blick auf die tatsächliche Gesundheits- und Lebenssituation vieler hochaltriger Menschen als unzutreffend und stereotyp.
Neben bedeutsamen sozialen Unterschieden in der Lebenslage und der Gesundheit im Alter zeichnet sich zunehmend eine lebenszyklische Kluft zwischen dem 3. (rund um das Pensionsantrittsalter) und 4. Lebensalter ab. Das 4. Lebensalter beginnt mit dem chronologischen Alter, in dem die Hälfte der ursprünglichen "Geburts-Kohorte" nicht mehr lebt – in den Industrieländern ist das heute mit etwa 80 Jahren der Fall.
Während bei gesunden pensionierten Frauen und Männern neben der klassischen Beratung bezüglich Finanzen, Partnerschaft oder Suchtverhalten aktivitätsorientierte Interventionen und partizipative soziale und gesundheitspolitische Maßnahmen im Vordergrund stehen, geht es bei sehr alten Menschen im vierten Lebensalter auch darum, die Grenzen sozialer, pflegerischer und medizinischer Maßnahmen zu akzeptieren.
Etwas zu unterlassen, kann gegen Lebensende wichtiger sein als ein hyperaktives Hinauszögern des Todes. Soziale Arbeit mit und für sehr alte Menschen ist nicht nur eng mit Pflege- und Gesundheitsberufen verbunden, sondern auch mit ethischen, spirituellen und lebensbiographischen Aspekten.
Größte Herausforderung: Erhaltung von Funktionalität und Selbsthilfefähigkeit
Der relativ gute körperliche Allgemeinzustand und die hohe Funktionalität vieler hochaltriger Menschen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit höherem Alter die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung altersassoziierter Erkrankungen und funktionaler Einschränkungen zunimmt.
Die Grundlagen für "Gesundheit im Alter" werden früh gelegt und sozial- und gesundheitspolitische Interventionen müssen daher bereits sehr früh im Lebenslauf ansetzen, um gesundheitlicher Ungleichheit entgegenzuwirken.
Im Alter von 80+ sind nahezu alle Menschen von mehr oder weniger unterschiedlich stark ausgeprägten chronischen Krankheiten betroffen. Die mit Abstand häufigste chronische Krankheit im hohen Alter ist Bluthochdruck. Fast drei Viertel der hochaltrigen Bevölkerung leiden dabei auch unter mehreren chronischen Erkrankungen gleichzeitig (Multimorbidität), Diabetes, Osteoporose, Demenz, verbunden mit einer zunehmenden kognitiven Verletzlichkeit.
Mit fortschreitenden körperlichen bzw. gesundheitlichen und funktionalen Einschränkungen im höheren Lebensalter gehen sehr häufig kognitive Beeinträchtigungen einher, wobei sich dabei funktionale und kognitive Verluste wechselseitig verstärken. Die Einflüsse des Lebensstils früherer Jahre dürften, insbesondere in der terminalen Phase, an Relevanz verlieren.
Mit abnehmender Selbsthilfefähigkeit und zunehmender Abhängigkeit von Pflege- und Betreuungsleistungen gilt es, ausreichend Ressourcen zu entwickeln, insbesondere für das Hilfssystem, um gewaltpräventiv Unsicherheit, Überlastungs- und Überforderungssituationen hintanzuhalten.
Einsamkeit – ein Problem einer Minderheit?
Die große Mehrheit der 80+ jährigen scheint von Einsamkeitsgefühlen weitestgehend frei zu sein. Das bedeutet, dass problematische Einsamkeit unter hochaltrigen Menschen möglicherweise seltener auftritt, als gemeinhin angenommen wird.
Einsamkeit ist im hohen Alter also eher ein Problem einer Minderheit – einer Minderheit allerdings, die nicht zu vernachlässigen ist. Von den von Einsamkeit betroffenen Menschen, egal welcher Alterskohorte sie angehören, wird diese Lebenserfahrung als äußerst trist wahrgenommen und hat vielfache negative Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit. Im hohen Alter sind die verfügbaren Copingstrategien zusätzlich stark reduziert.
Das hohe Alter ist weiblich und die Altersarmut ebenso
Soziale Ungleichheiten im Alter sind ein Ergebnis von über den gesamten Lebenslauf hinweg sich häufenden Benachteiligungen. Grundsätzlich ist Hochaltrigkeit eine Lebensphase, welche mit vielen sozialen Veränderungen und Verlusten, namentlich den Veränderungen und Verlusten sozialer Rollen und Beziehungen einher geht. Ein hohes Risiko für Altersarmut besteht für niedrig gebildete Bevölkerungsschichten, da sozioökonomische Ungleichheiten über das Pensionssystem ins Alter fortgeschrieben werden.
Am größten ist das Altersarmutsrisiko für Frauen einerseits aufgrund ihres niedrigeren Bildungsniveaus und einer selteneren und/oder unterbrochenen Berufskarriere und andererseits aufgrund der höheren Verwitwungsrate. 2022 befanden sich die durchschnittlichen Alterspensionen von Frauen laut Jahresbericht der österreichischen Sozialversicherung 2022 mit 1.150 Euro deutlich unter denen der Männer mit 1.858 Euro.
Frauen sind funktional eingeschränkter, häufiger alleinlebend und stärker armutsgefährdet. Frauen haben zwar eine höhere Lebenserwartung als Männer und machen daher den größten Anteil an der hochaltrigen Bevölkerung aus, dafür befinden sie sich aber tendenziell in einer schlechteren physischen Konstitution als gleichaltrige Männer. Daher rührt auch der außerordentlich große Frauenanteil in Pflegeheimen.
Hinzu kommt, dass Frauen im hohen Alter wesentlich öfter alleinstehend bzw. verwitwet sind als Männer aus derselben Altersgruppe. Sie verfügen also in der Regel über weniger Hilfs- und Pflegequellen innerhalb der Familie im Vergleich zu Männern, die häufig noch auf Unterstützung und Pflege durch ihre Ehefrauen zurückgreifen können.
Insgesamt bestätigt sich damit, was auch aus der Forschung bekannt ist, nämlich dass Frauen bei Hilfe- bzw. Pflegebedarf mit höherer Wahrscheinlichkeit formelle Leistungen in Anspruch nehmen oder in eine Institution umziehen müssen. Fast ein Viertel der ins Pflegeheim Eingezogenen gibt an, in die Entscheidung über den Umzug ins Pflegeheim nicht eingebunden gewesen zu sein.
Hohe Lebenszufriedenheit, relativ geringe Depressionsprävalenz
Hochaltrige Menschen zeichnen sich durch eine überwiegend hohe Lebenszufriedenheit aus. Alt zu werden, oder eben hochaltrig zu sein, bedeutet zwar mit vielen Veränderungen und Verlusten in beinahe allen Lebensbereichen rechnen zu müssen. Es bedeutet aber nicht, zwingend unzufrieden zu werden oder eine schlechtere Lebensqualität zu haben.
Allerdings ist eine wachsende emotionale Verletzlichkeit – vor allem bei chronischen Schmerzzuständen, bei Pflegebedürftigkeit, bei stärkeren kognitiven Einbußen und bei Verwitwung – deutlich erkennbar.
Zufriedenheitsparadoxon
Die Glücklichen unter ihnen haben durchaus noch Ziele und zwar erreichbare, wie die Geburt des Urenkelkindes zu erleben. Sie zeigen sich versöhnlich mit dem gelebten Leben und akzeptieren zunehmend das nahende Ende. Zudem gelingt es ihnen, selbst Verlusten etwas Positives abzugewinnen und beispielsweise die eigene Pflegebedürftigkeit nicht nur als Abhängigkeit zu erleben, sondern als Möglichkeit, regelmäßig mit jüngeren Menschen in Kontakt zu sein.
In diesem Sinne bekommt der Begriff Generativität eine besondere Färbung. Generativität meint die Fähigkeit, um das gegenseitige aufeinander Angewiesen-Sein der Generationen zu wissen, dies als individuelle bzw. kollektive Verantwortung aufzufassen und im individuellen bzw. kollektiven Denken und Handeln zu berücksichtigen.
Generativität im hohen Lebensalter beinhaltet im Gegensatz zur Generativität im frühen Alter allerdings zumeist weniger aktive als passive intergenerationelle Strategien. Es geht im hohen Lebensalter weniger um die Vermittlung von Erfahrungen oder um die Unterstützung jüngerer Menschen, sondern beispielsweise darum, Hilfeleistungen jüngerer Menschen dankbar anzunehmen.
In der Verantwortung gegenüber sich selbst liegt das Besondere der Generativität des hohen Alters und je selbstverantwortlicher und selbständiger hochaltrige Menschen leben und leben können, desto mehr werden jüngere Generationen entlastet. Umgekehrt ist es Verantwortung der "Jungen" auf die zunehmende Verletzlichkeit einfühlsam zu reagieren und die abnehmende Anpassungsfähigkeit auf die zunehmenden persönlichen Einschränkungen im hohen Alter respektvoll zu kompensieren.
Würde erhalten, Würde entwickeln
Ausschlaggebend für das Wohlbefinden in der Hochaltrigkeit dürften eine optimistische Einstellung, der Lebenswille und der Sinn, welche Hochaltrige ihrem Leben geben, sein. Wer dem Alter positiv entgegenblicken möchte, sollte Gelassenheit gegenüber den Einschränkungen entwickeln, den Blick auf die möglichen Gewinne des Alters richten, und die eigene Zukunft darauf ausrichten.
Würde, meint Wolfgang Hinte, der sich mit sozialräumlichen Strategien beschäftigt, bekomme ich über das, was ich selbst tue und nicht über das, was für mich getan wird. Und allem voran steht die Frage, was kann ich selbst dafür tun. Im Zusammenspiel der eigenen Fähigkeiten und Ressourcen mit den sozialstaatlichen Leistungen geht es um die Frage, wie wollen wir im Alter leben, also Fragen nach dem Lebensentwurf und nicht in erster Linie nach dem Pflegebedarf.
Quellen
- Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nach E. Erikson – das gelebte Leben zu akzeptieren und eine Haltung zum Tod zu finden.
- Eigene Interviews mit über 95igjährigen, Linz 2022
Literatur
- [1] Österreichische Interdisziplinäre Hochaltrigenstudie WELLE III 2019 – 2022 Die Herausforderungen des hohen Alters 2022
- [2] Österreichische Plattform für Interdisziplinäre Alternsfragen (ÖPIA): Österreichische Interdisziplinäre Hochaltrigenstudie 2015
Zusammenwirken von Gesundheit, Lebensgestaltung und Betreuung 1. Erhebung 2013 / 2014, Wien und Steiermark - [3] Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz: Hochaltrigkeit in Österreich. Eine Bestandsaufnahme. 2. Auflage 2009
- [4] Madeleine Buess, Julia Niggli: "Für das Vergangene – Dank. Für das Kommende - Ja!" Vom Umgang mit sozialen Veränderungen und Verlusten in der Hochaltrigkeit Bachelorthesis der Berner Fachhochschule - Soziale Arbeit, 2014