Inklusiver Kinderschutz – Gewalt erkennen, benennen, handeln

Portrait Andrea Rieger

Kinderschutz inklusiv zu denken, bedeutet Kinder mit Behinderung sichtbar machen. Der Schutz von Kindern gehört zu den grundlegendsten Aufgaben der Gesellschaft. Besonders verletzlich sind Kinder mit Behinderung, die aufgrund ihrer physischen, kognitiven oder emotionalen Einschränkungen einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, Betroffene von Vernachlässigung, Missbrauch oder Diskriminierung zu werden. Ihre besonderen Bedürfnisse, ihre häufig eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit und ihre Abhängigkeit von Bezugspersonen machen sie überdurchschnittlich anfällig für Gewalt in unterschiedlichsten Formen.

In diesem Artikel wird der Begriff Kinder für alle Kinder bis zum vollendetem 18. Lebensjahr genutzt.

Autorin: Andrea Rieger, Pädagogin, Teamleiterin des Projekts "Sicher Wachsen" der möwe Kinderschutz GmbH

Thema August 2025

Das Projekt "Sicher Wachsen"

schult, begleitet und berät Organisationen, Einrichtungen, Projekte, Mitarbeiter:innen, Bezugspersonen und Eltern, die mit Kindern mit Behinderungen arbeiten und leben zu Gewalt- und Kinderschutzthemen. Auch für und mit der Zielgruppe der Kinder mit Behinderungen werden passgenaue Gewaltpräventionsangebote entworfen.

Das Projekt "Sicher Wachsen" ist gefördert von Licht ins Dunkel.

Logo die moeve. Kinderschutz hat einen Namen.

Einleitung

Studien belegen, dass Kinder mit Behinderung deutlich häufiger Opfer von körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt sowie von Vernachlässigung werden als Kinder ohne Behinderung. In diesem Bereich gibt es eine hohe Dunkelziffer. Aus einer Studie, die in Zusammenhang mit dem Behindertenrat erstellt wurde, verfügen wir über Zahlen für erwachsene Menschen mit Behinderung. Diese besagt, dass 4 von 10 Personen mit Behinderungen in ihrem Leben bereits schwere körperliche Gewalt erlebt haben und fast 8 von 10 Personen mit Behinderungen körperliche Gewalt erfahren haben. Mehr als 8 von 10 Personen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen haben psychische Gewalt erlebt.

Kinderschutzmaßnahmen müssen daher nicht nur umfassend, sondern auch inklusiv gestaltet sein, um die Bedürfnisse der Kinder zu berücksichtigen und ihnen ein sicheres sowie förderliches Umfeld zu bieten.

Gewalt im Alltag – Was erleben Kinder mit Behinderung?

Gewalt an Kindern mit Behinderung ist oft komplex, mehrdimensional, chronisch und passiert meist im Verborgenen.

Körperliche Gewalt

Hierzu zählen Schläge, Festhalten, Zwangsfixierungen, unangemessene körperliche Eingriffe oder die Verweigerung von medizinischer Versorgung. Kinder mit körperlicher oder kognitiver Behinderung sind häufiger davon betroffen, da sie sich oft nicht adäquat wehren oder beschweren können.

Psychische Gewalt

Wiederholte Abwertung, Beschimpfung, Ignorieren, Spott und Beschämung sowie das Lächerlich machen von Verhaltensweisen, die aus der Behinderung resultieren, können massive psychische Schäden verursachen. Isolation, emotionale Kälte oder Bedrohung (z. B. mit Konsequenzen bei Inkontinenz, bei Essensverweigerung, oder zu langsamer Aufnahme von Essen) sind besonders häufig in stationären oder betreuten Einrichtungen der Fall.

Sexuelle Gewalt

Kinder mit Behinderung erleben signifikant häufiger sexuelle Übergriffe, vor allem wenn sie nonverbal kommunizieren oder kognitive Einschränkungen haben. Täter:innen nutzen die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit oder das fehlende Wissen über Sexualität gezielt aus. Besonders häufig kommt diese Form der Gewalt bei Kindern in Wickelsituationen oder Situationen der körperlichen Hygiene vor. Hier sind Kinder mit einer Bezugsperson allein und die Übergriffe werden in die tägliche Routine eingebaut. Kinder erleben die Übergriffe oft als zur Situation zugehörig und erdulden sie.

Strukturelle Gewalt

Hierunter fallen systemisch bedingte Gewaltformen wie unzureichende Betreuungsschlüssel, fehlende Inklusion, Barrieren im Zugang zu Hilfen oder ungeschultes Personal. Diese Gewalt ist nicht individuell motiviert, wirkt aber ebenso zerstörerisch und ist nachhaltig einschneidend für die Entwicklung.

Digitale Gewalt

Gerade bei Jugendlichen mit kognitiven Einschränkungen besteht ein erhöhtes Risiko für Mobbing bis hin zu sexuellem Missbrauch über Social Media, da sie oft nicht zwischen "Freundschaft" und "Manipulation" unterscheiden können. Kinder mit Lernverzögerungen und emotional verzögerter Entwicklung sind im Alltag oft isoliert. Diese Isolation steigert sich mit dem Lebensalter ab der Pubertät. Die Interessen der Peers ändern sich, die Suche nach der eigenen Identität gestaltet sich sehr individuell und der bisherige Kontakt zu Freundinnen/Freunden oder Schulkameradinnen/Schulkameraden reduziert sich auf ein Minimum. Kontakte aus dem Internet werden zu Ankern, die rasch zu Abhängigkeit führen und dadurch missbräuchlich verwendet werden können.

Vernachlässigung als institutionelle oder Gewalt durch Bezugspersonen

Diese Art der Gewalt definiert sich durch Verweigerung notwendiger Hilfsmittel, fehlende Förderung, mangelhafte Hygiene oder Ernährung. Dies zählt zu den häufigsten Gewaltformen – gerade bei Kindern, die in pflegeintensiven Lebenssituationen stehen. Bei betreuenden Institutionen steht oftmals das Argument der fehlenden finanziellen Mittel oder Personalmangel im Vordergrund.

Die Gefährder:innen – Wer übt Gewalt aus und wo passiert Gewalt?

Die gewaltausübenden Personen kommen meist aus dem nahen sozialen Umfeld. Ihre Positionen ermöglichen Zugang, Vertrauen und Kontrolle.

Familie und enge Bezugspersonen

In vielen Fällen stammen die ausübenden Personen aus dem familiären Umfeld: Eltern, Stiefeltern, Geschwister oder Pflegepersonen. Ursachen sind häufig Überforderung, Isolation oder mangelnde Aufklärung über den Umgang mit der Behinderung des Kindes.

Professionelle Helfer:innen

In Einrichtungen (Schulen, Heime, Werkstätten) sind es häufig Mitarbeitende mit enger, intimer Betreuungstätigkeit, wie Pflegekräfte, Betreuer:innen und Pädagoginnen und Pädagogen. Bei mangelnder Aufsicht, fehlender Fachkenntnis oder strukturellen Defiziten steigt das Risiko für diese Übergriffe.

Kinder

Andere Kinder – etwa in Schulen oder Wohngruppen, Therapieeinrichtungen – können übergriffig und gewalttätig sein. Dies zeigt sich etwa durch Mobbing, physische Gewalt oder sexualisierte Übergriffe. Kinder mit Behinderung haben häufig keine Werkzeuge, um sich gegen Gleichaltrige, egal ob mit oder ohne Behinderung, zur Wehr zu setzen. Das Gefühl der Machtlosigkeit und der Rechtelosigkeit manifestiert sich durch solche Situationen oft schon in frühen Jahren.

Gewalt erkennen – aber wie?

Viele Anzeichen sind subtil, unspezifisch oder werden fälschlich als Ausprägung der Behinderung definiert. Es erfordert von Fachkräften ein genaues Hinschauen und großes Einfühlungsvermögen, um Gewalt zu erkennen.

Mögliche Hinweise können sein:

Körperliche Hinweise

  • Unerklärliche Hämatome, Verbrennungen, Frakturen
  • Häufige Wechsel des medizinischen oder betreuenden Personals
  • Verweigerung medizinischer Hilfe bei Verletzungen
  • Wiederholte Verletzungen an derselben Körperstelle

Psychische und emotionale Warnzeichen

  • Plötzliche Verhaltensänderungen (Rückzug, Aggression, Angst, Distanzlosigkeit, Mutismus…)
  • Regressives Verhalten (z. B. Einnässen, Daumenlutschen, orale Befriedigung durch Gegenstände)
  • Apathie oder Überanpassung
  • Selbst- und oder Fremdverletzung

Hinweise auf sexuelle/sexualisierte Gewalt

  • Altersunangemessenes sexuelles Wissen oder Verhalten
  • Beschwerden oder Schmerzen beim Sitzen
  • Bauchweh, als Hinweis auf innere Verletzungen oder Infektionen
  • Vermeidung bestimmter Personen oder Ort

Verhalten in der Einrichtung

  • Ungewöhnlich starke Angst vor bestimmten Personen
  • Ungewöhnlich starkes Suchen der Nähe von bestimmten Personen (entweder als Hilferuf oder als Kontaktaufnahme zur gewalttätigen Person, um diese "milde" zu stimmen)
  • Panik bei Übergabe oder Abholung
  • Verweigerung von Assistenzleistungen

Sprachliche Hinweise (bei verbalisierungsfähigen Kindern)

  • Wörtliche Hinweise, auch wenn sie unklar erscheinen ("XY tut mir weh", "Ich mag nicht auf Toilette mit ihr/ihm")
  • Erzählen "im Spiel" von Gewalt oder Übergriffen

Als Fachkraft – Was kann ich tun?

Sensibilisierung und Schulung

Mitarbeiter:innen in Kindergärten, Schulen, Horten, Wohneinrichtungen und Pflegebereichen müssen speziell mit Praxisbezug geschult sein, um Gewaltsignale bei Kindern mit Behinderung zu erkennen und die Hemmschwelle zu überwinden, nicht wegzusehen und bereits unerklärbare Situationen oder Beobachtungen anzusprechen.

Schaffung sicherer Strukturen

Es braucht klare Konzepte für Kinderschutz, Beschwerden, Aufsicht und Personalrotation. Nähe und Distanz müssen professionell geregelt sein, besonders in pflegeintensiven Situationen.

Partizipation fördern

Kinder mit Behinderung müssen alters- und behinderungsgerecht über ihre Rechte aufgeklärt werden – auch mit unterstützter Kommunikation. Beteiligung ist ein wirksamer Schutzmechanismus.

Zusammenarbeit mit externen Fachstellen

Der Kontakt zu Kinderschutzeinrichtungen, der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. MA 11 in Wien), Fachstellen für Gewaltprävention sowie zur Polizei muss in der Institution klar geregelt sein.

Dokumentation und Verdachtsmeldung

Auffälligkeiten müssen sorgfältig dokumentiert und bei begründetem Verdacht sofort gemeldet werden – intern wie extern. In Österreich gilt eine gesetzliche Meldepflicht bei Kindeswohlgefährdung (§ 37 B-KJHG) besonders für Mitarbeiter:innen von Institutionen.

Conclusio

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) stellt einen bedeutenden Meilenstein im Schutz und in der Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen dar. Ein zentrales Anliegen der Konvention ist die Stärkung des Mitteilungs- und Mitbestimmungsrechts von Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Kindern.

Der Österreichische Behindertenrat hat als verankerte Interessensvertretung am 14. Juli 2025 die Situation in Österreich kritisiert und hervorgehoben. Trotz der Ratifizierung 2008 sind Menschen mit Behinderungen in Österreich stark strukturell benachteiligt. Der aktuelle Menschrechtsbericht zeigt: Österreich liegt bei der Umsetzung seiner Verpflichtungen hinter dem Zeitplan und hat keinen ausreichenden Umsetzungsplan. Es braucht einen strukturierten Prozess zur Umsetzung der UN-Handlungsempfehlungen. Gleichberechtigte Zugänge – Bildung, Arbeit, Gesundheit und Justiz – sind weiterhin eingeschränkt. In einzelnen Bereichen kommt es sogar zu Rücksichten, insbesondere im Bildungsbereich, wo nach wie vor Segregation von Kindern mit Behinderungen besteht, sowie im Bereich Barrierefreiheit. Frauen mit Behinderungen sind doppelt so häufig Betroffene von sexuellen Übergriffen.

Im Rahmen eines inklusiven Kinderschutzes bedeutet dies, dass alle Schutz- und Hilfsangebote so gestaltet sein müssen, dass auch Kinder mit Behinderungen ihre Anliegen verständlich und sicher äußern können. Dies umfasst die Bereitstellung unterstützter Kommunikationsmethoden wie Gebärdensprache, einfache Sprache oder Bildkarten sowie die Schulung von Kinderschutz-Fachkräften im Umgang mit alternativen Kommunikationsformen. Nur so kann gewährleistet werden, dass auch nicht-sprechende oder kognitiv eingeschränkte Kinder in der Lage sind, sich mitzuteilen und auf Missstände hinzuweisen.

Das Mitbestimmungsrecht stellt sicher, dass Kinder mit Behinderungen in Entscheidungen einbezogen werden, die ihr Leben betreffen – sei es im familiären Umfeld, in Betreuungseinrichtung oder bei der Entwicklung von Schutzkonzepten. Ein inklusiver Kinderschutz berücksichtigt die individuellen Bedürfnisse aller Kinder und bindet sie aktiv in die Gestaltung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen ein.

Kinder mit Behinderung tragen ein überproportional hohes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden – oft im Verborgenen. Die Verantwortung, dies zu verhindern, liegt bei allen, die mit diesen Kindern arbeiten und leben. Sensibilisierung, Fortbildung und eine konsequente Kinderschutzpraxis sind unabdingbar, um dieser besonders schutzbedürftigen Gruppe gerecht zu werden. Gewalt darf niemals mit Notwendigkeit in der Pflege, als Erziehungsmittel oder der Therapie gerechtfertigt werden. Hier ist gesellschaftlich zu hinterfragen, wodurch dies entstehen kann und politisch zu diskutieren, wie sich die Prioritäten zu umfassenden inklusivem Kinderschutz zugunsten der vulnerabelsten Gruppe verschieben können.

Der Schutz von Kindern mit Behinderung ist keine Option – es ist unsere Pflicht!

Literatur

  • UNICEF (2020): Gewalt gegen Kinder mit Behinderungen – Überblick und Studienlage.
  • BMASK (Österreich, 2018): Nationaler Aktionsplan Behinderung.
  • WHO (2012): Global estimates on the prevalence of violence against children with disabilities.
  • Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Hamburg (2019): Kinderschutz in Einrichtungen.
  • SOS-Kinderdorf Österreich (2023): Kinderschutz-Leitfaden für Fachkräfte.
  • Österreichischer Behindertenrat (2020): Studie Menschen mit Behinderungen deutlich häufiger von Gewalt betroffen,
    in: www.behindertenrat.at, am 10.7.2025. 

  • Österreichischer Behindertenrat (2025): UN Bericht zu Menschenrechten. Österreichische Zivilgesellschaft zieht Bilanz. Es braucht mehr als nur Worte, 
    in: www.behindertenrat.at, am 15.7.2025.

Weiterführende Informationen