Schutzstandards in Therapie und Beratung – Schutzkonzepte als Grundlage gegen Gewalt und Grenzverletzungen in helfenden Berufen

Portrait Katja Koller

Wie können Therapeutinnen und Therapeuten, Berater:innen, Pfleger:innen, Ärztinnen und Ärzte sich selbst und ihre Klientinnen und Klienten wirksam vor Gewalt und Grenzverletzungen schützen und gleichzeitig Vertrauen und Selbstwirksamkeit fördern?

Dieser Artikel beleuchtet, wo Grenzverletzungen und Machtmissbrauch beginnen, von wem sie ausgehen können, welche Risiken im therapeutischen und medizinischen Setting bestehen und warum gerade hier ein achtsamer Umgang so entscheidend ist. Anhand von Zahlen, Beispielen und einem Praxisbericht wird deutlich, dass Selbstverpflichtungserklärungen und Schutzstandards eine einfache, aber kraftvolle Möglichkeit sind, Sicherheit zu schaffen und professionelle Beziehungen klar zu gestalten. Ein Impuls für alle, die Verantwortung übernehmen und Hilfe nachhaltig wirksam machen wollen.

Autorin: Katja Koller, MA, Sozialarbeiterin, Sexual- und Traumapädagogin und Sexualberaterin nach Sexocorpore

Thema November 2025

Therapiesetting mit Kaffee

Schutzkonzepte sind effektive Strategien zur Prävention von Gewalt in Organisationen, die mit vulnerablen Gruppen arbeiten: darunter Kinder, Jugendliche, Menschen mit Beeinträchtigungen, ältere Menschen und Patientinnen und Patienten. Sie beinhalten die Identifikation von Risiken und Machtgefällen innerhalb einer Organisation sowie die Entwicklung präventiver Maßnahmen wie Verhaltenskodizes, Beschwerdesysteme, Mitarbeiterschulungen und Personalmanagement. Ein verbindlicher Interventionsplan für Verdachtsfälle ist ebenfalls Bestandteil eines umfassenden Schutzkonzepts.

Während solche Schutzstrategien in Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen zunehmend etabliert und gesetzlich verankert werden, bleibt ein bedeutender Bereich oft unbeachtet: das therapeutische, pflegerische oder beratende Einzelsetting. Gerade hier besteht aber ein erhöhtes Risiko für Übergriffe, Gewalt und Machtmissbrauch. Menschen, die therapeutische oder medizinische Unterstützung aufsuchen, befinden sich zudem häufig in herausfordernden Lebenssituationen, legen Schutzmechanismen ab und machen sich verletzlich: eine Situation, die potenziell ausgenutzt werden kann.

Obwohl viele Berufe über Berufsgesetze oder Ethikkodizes verfügen, die in der Ausbildung ausführlich behandelt werden, fehlt es in der Praxis oft an kontinuierlicher Reflexion über das Machtverhältnis zwischen therapeutischer Fachkraft und Klient:in. Hinzu kommt, dass Ärzte und Ärztinnen sowie Therapeutinnen und Therapeuten durch ihre Rolle eine erhebliche Autorität innehaben. Ihr Vorgehen wird von Klientinnen und Klienten selten in Frage gestellt, sondern meist als "richtig" und "notwendig" akzeptiert. Einige Praktiker:innen wehren sich zudem aktiv gegen diese Auseinandersetzung mit dem Argument: "Wir wollen doch nur helfen!"

Warum wir trotzdem über Risiken sprechen sollten

Natürlich sollte sich niemand, durch die folgenden Darstellungen davon abhalten lassen, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Dennoch ist es wichtig, die Realität nicht auszublenden: Dort, wo Vertrauen und Nähe eine zentrale Rolle spielen, entstehen auch Risiken der Grenzverletzungen und des Machtmissbrauchs. Diese können sowohl von den Fachkräften als auch von den Nutzerinnen und Nutzern des Angebots ausgehen. Indem wir über Zahlen, Fakten und konkrete Fälle sprechen, schaffen wir Bewusstsein und damit die Möglichkeit, betroffene Menschen schneller zu schützen und zu unterstützen.

Ebenso wichtig ist es, dass alle Beteiligten ihrem eigenen Gefühl vertrauen dürfen: Wenn sich etwas eigenartig oder nicht stimmig anfühlt, lohnt es sich, hinzusehen und Grenzen klar zu benennen.

Zahlen und Beispiele zu Übergriffen in der Psychotherapie und Medizin

Studien zeigen, dass sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie häufiger vorkommen als angenommen. Laut einer Schätzung des Instituts für Psychotraumatologie Freiburg/Köln muss in Deutschland jährlich mit mindestens 300 bis 600 sexuellen Übergriffen in der Psychotherapie gerechnet werden. In Österreich wurde beispielsweise ein Psychotherapeut im Jahr 2021 wegen sexueller Übergriffe auf Patientinnen verurteilt.[1] Im Dezember 2024 wurden zwei Tiroler Therapeuten verdächtigt, bei Therapiesitzungen sexuelle Übergriffe begangen zu haben. Diese Fälle verdeutlichen, dass solche Übergriffe keine Einzelfälle sind.[2]

Auch Ärzte haben ihre Berufsstellung ausgenutzt, um Patientinnen und Patienten sexuell zu missbrauchen: In Graz wurde ein Oberarzt wegen sexueller Belästigung von Patientinnen, darunter auch Geschlechtsverkehr unter dem Deckmantel medizinischer Untersuchungen verurteilt. Dabei nutzte er seine Position aus und überschritt Grenzen unter dem Vorwand fehlender gynäkologischer Kapazitäten.[3] In Vorarlberg wurde ein Arzt schuldig gesprochen, weil er Patientin vaginal und anal berührt hatte, als Teil der Untersuchung getarnt.[4] Solche Fälle zeigen eindrücklich, wie tiefgreifend und grausam das Vertrauen von Patientinnen und Patienten verletzt werden kann.

Grenzverletzungen und Übergriffe durch Nutzer:innen

Grenzverletzungen können allerdings nicht nur von Therapeutinnen und Therapeuten, Ärztinnen und Ärzten oder Praxispersonal ausgehen, auch Klientinnen und Klienten und Patientinnen und Patienten überschreiten mitunter Grenzen. In körperorientierten Therapierichtungen wie z. B. Physiotherapie oder Massage berichten Fachkräfte immer wieder davon, dass Patientinnen und Patienten absichtlich unangemessene Berührungen suchen oder zweideutige Bemerkungen machen. In Deutschland haben Physiotherapie-Verbände mehrfach öffentlich Stellung genommen, weil Therapeutinnen und Therapeuten von Patientinnen oder Patienten bedrängt wurden.

Ärztinnen erleben, dass ihre fachliche Kompetenz infrage gestellt wird, weil sie Frauen sind, verbunden mit sexistischen Kommentaren oder dem Versuch, Anweisungen nicht ernst zu nehmen. Eine Umfrage der Ärztekammer Nordrhein (2020) zeigte, dass jede dritte Ärztin im Berufsleben schon einmal sexuelle Belästigung durch Patientinnen oder Patienten erlebt hat. Formen reichten von anzüglichen Kommentaren bis zu körperlichen Übergriffen. Ähnlich verhält es sich mit Ärztinnen und Ärzten und Pflegepersonal mit Migrationshintergrund. Ihnen wird die Kompetenz abgesprochen oder sie sind rassistischen Beleidigungen und Demütigungen ausgesetzt. Laut einer Studie des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK, 2018) haben rund 60 Prozent des Pflegepersonals schon sexuelle Belästigung durch Patientinnen oder Patienten erfahren. Besonders häufig trifft es junge Frauen, aber auch männliches Personal ist betroffen.

Auch Beratende, Therapeutinnen und Therapeuten berichten von respektlosem Verhalten, etwa wenn Klientinnen oder Klienten auf persönlicher Ebene flirten, Geschenke mit Erwartungshaltungen überreichen oder intime Fragen stellen, die nichts mit dem Beratungsauftrag zu tun haben.

Solche Situationen zeigen, dass Schutz und Respekt in beide Richtungen gelten müssen.

Wo Grenzverletzung und Machtmissbrauch beginnen

Grenzverletzungen im therapeutischen oder medizinischen Setting beginnen jedoch oft subtiler, als viele vermuten. Sie sind nicht erst dann gegeben, wenn es zu einem massiven Übergriff kommt, sondern schon in jenen Situationen, in denen Menschen sich nicht respektvoll, ernst genommen und gleichwürdig behandelt fühlen.

Machtmissbrauch kann bereits dort beginnen, wo eine Haltung von "Besserwisserei" deutlich wird: "Ich weiß, was das Beste für sie ist.", ohne die Sichtweise oder Entscheidungsmöglichkeiten der Patientinnen und Patienten zu respektieren. Auch sprachliche Abwertungen sind Grenzverletzungen: wenn Patientinnen oder Patienten mit Kosenamen wie "Schätzchen", "mein Mädel" oder "junger Mann" angesprochen werden, statt deren Namen oder gewünschte Anredeformen zu respektieren. Besonders verletzend ist es für trans- und nichtbinäre Menschen, wenn ihr gewählter Name oder ihre Pronomen ignoriert oder bewusst falsch verwendet werden.

Ebenso verletzend sind unnötige oder unpassende Berührungen, die nicht medizinisch oder therapeutisch begründet sind, etwa eine "zufällige" Hand auf dem Oberschenkel oder eine körperliche Nähe, die nicht erklärt und nicht einvernehmlich ist. Selbst wenn sie nicht als "Übergriff" im juristischen Sinn gewertet werden, hinterlassen sie bei Betroffenen oft Verunsicherung, Scham und das Gefühl, nicht sicher zu sein.

Auch das Nicht-Ernstnehmen von Anliegen stellt eine Form der Grenzverletzung dar: Wenn Beschwerden heruntergespielt oder als Einbildung abgetan werden ("Das bilden Sie sich nur ein"), wird Patientinnen und Patienten nicht nur ihre Wahrnehmung abgesprochen, es wird auch die Grundlage für eine respektvolle Beziehung zerstört.

Diese Grenzverletzungen können nicht nur von therapeutischen Fachkräften medizinischem Personal oder Klientinnen und Klienten ausgehen. Auch andere Mitarbeiter:innen in einer Praxis oder Ordination tragen Verantwortung für einen respektvollen Umgang und auch von ihnen kann Gewalt oder Machtmissbrauch ausgehen. Wenn Ordinationsassistentinnen oder Assistenten unachtsam Menschen berühren, für Behandlungen vorbereiten oder etwa Termine bewusst blockieren und diese erst freigeben, wenn sich Patientinnen oder Patienten so verhalten, wie sie es wünschen, entsteht eine Form von Druck und Abhängigkeit.

Ebenso verletzend ist ein respektloser Umgangston, oder vor anderen bloßgestellt oder lächerlich gemacht zu werden. Besonders migrantisierte Menschen sind davon betroffen: Durch abwertende Kommentare, spöttische Nachfragen oder diskriminierende Bemerkungen werden rassistische Strukturen reproduziert und bestehende Machtverhältnisse verstärkt. Auch solche Situationen sind Formen von Grenzverletzungen: sie demütigen Betroffene, schwächen ihr Vertrauen und können nachhaltig dazu führen, dass medizinische oder therapeutische Unterstützung nicht mehr in Anspruch genommen wird.

Für Betroffene können solche Erfahrungen zutiefst verletzend sein: Sie fühlen sich abgewertet, beschämt und ohnmächtig. Diese subtilen Grenzverletzungen sind deshalb nicht harmlos, sondern wirken langfristig nach, gerade weil sie häufig schwer zu benennen sind und von außen als "Kleinigkeit" abgetan werden. Sie markieren den Beginn einer Spirale, die in massiveren Übergriffen enden kann, wenn Macht und Abhängigkeit unreflektiert bleiben.

Die beschriebenen Fälle weiter oben machen deutlich, dass Grenzverletzungen nicht einseitig verlaufen: Auch Fachkräfte können Zielscheibe von Übergriffen, Respektlosigkeit oder Diskriminierung werden. Umso wichtiger ist ein klarer Rahmen, in dem gegenseitige Achtung selbstverständlich ist.

Warum Schutzkonzepte notwendig sind

All diese Beispiele unterstreichen die absolute Notwendigkeit transparenter Schutzmechanismen wie Schutzstandards und Selbstverpflichtungserklärungen.

Obwohl es erste Studien zum Thema gibt, muss davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer erheblich höher ist. Viele Betroffene schweigen aus Scham, Schuldgefühlen oder Angst vor Konsequenzen. Zudem wird die eigene Wahrnehmung oft in Frage gestellt, und Anzeigen sind selten. Verurteilungen von Therapeutinnen und Therapeuten, Ärztinnen und Ärzten sind noch seltener.

Darüber hinaus sind es natürlich nicht nur Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten oder Ärztinnen und Ärzte, die Verantwortung tragen: Auch in Massagepraxen, Physiotherapie, Ergotherapie, Lebens- und Sozialberatung, Sozialarbeit und anderen beratenden Kontexten besteht das Risiko von Grenzverletzungen und Übergriffen.

Die beschriebenen Beispiele machen deutlich, wie vielfältig Grenzverletzungen sein können: von massiven Übergriffen bis hin zu subtilen Formen von Machtmissbrauch. Damit Betroffene geschützt und Fachkräfte, aber auch Nutzer:innen ihrer Verantwortung gerecht werden können, braucht es klare Strukturen und konkrete Handlungsoptionen.

Schutzstandards können Orientierung auf beiden Seiten bieten: Sie machen deutlich, dass Regeln und Grenzen nicht nur für Fachkräfte, sondern für alle Beteiligten gelten. So entsteht ein klarer Rahmen, der gegenseitige Achtung fördert und Gewalt oder Abwertung von beiden Seiten entgegenwirkt.

Im Folgenden werden einige zentrale Risikofaktoren im therapeutischen Setting, sowie Präventionsmöglichkeiten, insbesondere in Form von Selbstverpflichtungserklärungen, vorgestellt.

Risiken ausgehend von Therapeutinnen/Therapeuten

Das therapeutische Setting birgt spezifische Risiken für Grenzverletzungen:

  • Machtgefälle: Therapeutinnen und Therapeuten befinden sich in einer Autoritätsposition, die ausgenutzt werden kann.
  • Abhängigkeit: Klientinnen und Klienten entwickeln oft eine emotionale Abhängigkeit, die ihre Fähigkeit zur kritischen Reflexion einschränkt.
  • Intimität: Die therapeutische Beziehung ist durch Nähe und Vertrauen geprägt, was das Risiko für Grenzüberschreitungen erhöht.
  • Berührungen: In bestimmten Therapieformen, wie Körpertherapien oder bestimmten medizinischen Behandlungen, können Berührungen erforderlich sein, was zusätzliche Risiken birgt.

Risiken ausgehend von Patientinnen/Patienten

  • Idealisierung / Verliebtheit: Patientinnen und Patienten entwickeln starke emotionale Bindungen oder verlieben sich und überschreiten dadurch Grenzen.
  • Unklare Rollenerwartungen: Die Fachkraft wird nicht nur als professionelle Begleitung wahrgenommen, darüber hinaus wird freundschaftliche, partnerschaftliche oder intime Nähe erwartet.
  • Kompensationsstrategien: Manche Patientinnen oder Patienten suchen Nähe oder Anerkennung in unpassender Form (z. B. durch Geschenke, Flirts oder persönliche Anfragen).
  • Ungleiches Machtverständnis: Die professionelle Grenze wird nicht anerkannt. Offenheit und Empathie werden als Einladung zu persönlicher Vertraulichkeit interpretiert.
  • Frustration und Aggression: Wenn Erwartungen nicht erfüllt werden (z. B. schnelle Heilung, mehr Zuwendung), können Ärger, Drohungen oder herabwürdigende Reaktionen entstehen.

Selbstverpflichtungserklärung als Präventionsmaßnahme

Eine Selbstverpflichtungserklärung kann als individuelle Maßnahme zur Gewaltprävention dienen – eine Art "Light-Version" eines umfassenden Schutzkonzepts für Einzelpraktiker:innen. Sie fördert nicht nur den Schutz der Klientinnen und Klienten, sondern stärkt auch deren Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit.

Durch transparente Kommunikation von Rechten und Grenzen wird von Beginn an vermittelt, dass sie jederzeit bestimmen dürfen, ob sie die Therapie fortsetzen möchten, z. B.:

  • Die Türen sind nie versperrt; der Raum kann jederzeit verlassen werden.
  • Es werden keine privaten Nachrichten verschickt oder private Treffen vereinbart.
  • Fragen müssen nicht beantwortet werden; Übungen oder Behandlungsmethoden können abgelehnt werden.
  • Berührungen finden nur nach ausdrücklicher Zustimmung statt; Genitalien und andere Intimbereiche werden niemals berührt.

Ebenso werden auch die Pflichten der Klientinnen und Klienten klar benannt: etwa keine körperlichen Annäherungen, kein Flirten und ein respektvoller Umgang. Wird gegen diese Regeln verstoßen, kann der Betreuungsvertrag jederzeit und ohne Vorankündigung beendet werden.

Diese Klarheit schafft einen sicheren Raum, in dem Klientinnen und Klienten lernen können, ihre Grenzen zu erkennen und zu wahren: eine Kompetenz, die weit über das therapeutische Setting hinaus Bedeutung hat.

Nutzen der Selbstverpflichtungserklärung

  • Prävention von Gewalt: Durch klare Regeln und Transparenz werden potenzielle Grenzverletzungen frühzeitig erkannt und verhindert.
  • Stärkung der Selbstwirksamkeit: Die Beteiligten des Settings erleben, dass ihre Grenzen geachtet werden und sie Kontrolle über die Situation behalten.
  • Begegnung auf Augenhöhe: Die therapeutische Beziehung wird als partnerschaftlich erlebt, was Vertrauen und Offenheit fördert.
  • Erfahrungsspielräume schaffen: Die Beteiligten des Settings können in einem geschützten Rahmen erproben, wie es ist, ein Veto einzulegen oder Grenzen zu setzen.

Inhalte einer Selbstverpflichtungserklärung

Eine Selbstverpflichtungserklärung kann folgende Punkte beinhalten:

  • Offene Türen: Räume werden zu keiner Zeit versperrt; den Raum jederzeit verlassen.
  • Mitbestimmungsrecht: Fragen dürfen unbeantwortet bleiben und Übungen oder Behandlungsmethoden abgelehnt werden.
  • Transparenz: Therapeutinnen und Therapeuten verpflichten sich zur Offenlegung der angewandten Methoden und erklären die Herangehensweise.
  • Keine privaten Kontakte: Es werden keine privaten Nachrichten verschickt oder private Treffen vereinbart; Kommunikation erfolgt ausschließlich über professionelle Kanäle und Themen.
  • Feedback und Beschwerden: Klientinnen und Klienten dürfen jederzeit Feedback geben oder sich über die Behandlung beschweren. Zuständige Beschwerdestellen sind aufgelistet und werden ausgehändigt.
  • Berührungen: Berührungen finden nur nach ausdrücklicher Zustimmung und mit Begründung statt; Genitalien und andere Intimbereiche werden niemals berührt (Ausnahmen, wie sie z. B. im gynäkologischen Setting stattfinden, müssen detailliert beschrieben und aufgelistet werden.)
  • Verhaltensregeln: Die Zusammenarbeit ist von gegenseitigem Respekt geprägt. Demütigungen, Beschimpfungen, Gewalt und Grenzverletzungen werden nicht hingenommen.

Besondere Aspekte in der Arbeit mit Kindern

Zusätzliche Maßnahmen sind erforderlich, wenn mit Kindern gearbeitet wird:

  • Aufklärung der Eltern: Sie müssen darüber informiert werden, welche Maßnahmen erlaubt sind und wann das Kind während der Therapie mit der Therapeutin oder dem Therapeuten allein sein wird.
  • Aufklärung der Kinder: Die Kinder werden altersadäquat aufgeklärt und über die nächsten Schritte informiert.
  • Transparenz: Sowohl Kinder als auch Eltern werden über den Ablauf der Therapie und die angewandten Methoden informiert.
  • Einbindung der Eltern: Eltern werden, soweit förderlich, in den therapeutischen Prozess einbezogen.

Warnsignale – Worauf Klientinnen/Klienten achten können[5]

Um eine passende Ansprechperson zu finden, können Klientinnen und Klienten auf bestimmte Warnsignale achten:

  • Ungewolltes Duzen und Ansprechen mit Kosenamen, unpassende Komplimente
  • Scheinbar zufällig körperliche Berührungen oder auch Aufforderung zum Körperkontakt, obwohl dies nicht Teil der Behandlung ist.
  • Aufforderung zu sexuellen Handlungen, Ausprobieren "neuer körperorientierter" Methoden
  • Sexualisierung, Flirten, Anmachen oder unauffällige, nicht eindeutige Grenzüberschreitungen. Auch die Thematisierung eigener Probleme der Therapeutin oder des Therapeuten sind nicht Teil der Behandlung.
  • Schweigegebote: Die Therapie als Ganzes, einzelne Methoden oder die "besondere Beziehung zueinander" werden zum Geheimnis erklärt.
  • Äußerungen von Zorn und Ärger über Aussagen: : Aussagen von Klientinnen oder Klienten werden nicht nur nicht ernst genommen, es wird sogar äußerst emotional darauf reagiert.
  • Sitzungen werden immer auf die letzte Abendstunde verlegt und die vereinbarten Sitzungszeiten werden nicht eingehalten. Es kommt zu Treffen in Cafés oder Restaurants. Die Sitzungen bekommend zunehmend "privaten" Charakter.
  • Therapeutinnen oder Therapeuten machen Geschenke, bieten Alkohol oder Drogen an.
  • Private Nachrichten auf Social Media Plattformen oder Anrufe außerhalb der "gängigen" Arbeitszeiten.

Wann immer Menschen ein unangenehmes Gefühl bekommen, sollten sie diese Gefühle und Zweifel ernst nehmen. Entweder sie können das Problem direkt in der Therapiesitzung besprechen oder sie wenden sich an eine Beratungsstelle. Sollte sich keine Lösung finden ist ein Therapeutenwechsel ratsam.

Meine Erfahrungen als Sexualberaterin

In meiner Arbeit als Sexualberaterin ist es mir besonders wichtig, von Anfang an einen sicheren Rahmen zu schaffen.

Für mich sind Vertrauen und Offenheit die Basis in der Zusammenarbeit mit meinen Klientinnen und Klienten. Dabei bestimmten immer die Klientin bzw. der Klient die eigene Komfortzone und wie weit sie darüber hinausgehen möchten. Um diese Haltung nicht nur zu formulieren, sondern auch praktisch umzusetzen, lege ich eine schriftliche Beratungsvereinbarung vor, die wir beim ersten Termin gemeinsam durchgehen. Ich nehme mir dafür bewusst etwa zehn Minuten Zeit, erkläre die einzelnen Punkte und mache deutlich, warum diese Vereinbarung für beide Seiten wichtig ist. Danach unterschreiben wir beide diese Vereinbarung, die Klienten bzw. der Klient erhält ein Exemplar mit nach Hause. In den folgenden Sitzungen werden die wichtigsten Punkte kurz wiederholt, damit die Kriterien der Vereinbarung lebendig bleiben und nicht in Vergessenheit geraten.

Ein zentraler Aspekt ist, dass die Vereinbarung auch im praktischen Arbeiten konsequent umgesetzt wird. Beispielsweise frage ich bei Berührungssequenzen explizit nach: "Darf ich Sie hier berühren, weil …?" – so wird klar, dass Berührungen niemals selbstverständlich sind, sondern der Zustimmung und bewussten Entscheidung der Klienten bedürfen.

Herausforderungen meiner Vorgehensweise

  • Zeitaufwand: Das gemeinsame Besprechen der Vereinbarung benötigt Zeit in der Beratung, die man bewusst einplanen muss. Das Aushändigen alleine (z.B. vor dem ersten Beratungstermin per Mail) macht in meinem Verständnis wenig Sinn, da die Vereinbarung eine andere Wirkung zeigt, wenn man die Punkte gemeinsam bespricht und erläutert. Zudem können in diesem Gespräch auch offene Fragen oder eventuelle Missverständnisse geklärt werden.
  • Selbstreflexion: Es erfordert die Bereitschaft, die eigenen Machtverhältnisse zu hinterfragen, auch mit der unbequemen Frage: "Wann könnte ich selbst übergriffig oder grenzüberschreitend handeln?" Aber auch Grenzverletzungen durch Klientinnen oder Klienten direkt anzusprechen und ggf. Beratungssettings aufzulösen erfordert Mut und eine klare Haltung. Gerade in diesen Situationen fällt es allerdings oft schwer, Haltung zu wahren, da man überfordert und verunsichert ist und nach alternativen Erklärungsmodellen sucht: "Das war bestimmt nicht so gemeint." Oder "Heute bin ich wieder empfindlich."
  • Fehlendes Beschwerdesystem: In meinem Berufsfeld gibt es bislang keine offizielle, externe Beschwerdestelle, an die sich Klientinnen oder Klienten wenden könnten. Hier bleibt die Eigenverantwortung besonders groß.
  • Unverständnis: Manche Klientinnen und Klienten sind überrascht, wenn ich darauf hinweise, dass bestimmte Berührungen nicht in Ordnung sind. Sie gehen davon aus, dass "das ohnehin nicht passieren werde". Gerade in diesen Situationen wird deutlich, wie wichtig es ist, Missverständnissen vorzubeugen und Transparenz zu schaffen.

Fazit

Es ist davon auszugehen, dass viele Praxen bereits über eine Beratungsvereinbarung, einen Vertrag oder ein Leitbild verfügen. Diese bestehenden Instrumente lassen sich sinnvoll mit den oben genannten Punkten erweitern. In jedem Fall ist es notwendig, eine Risikoanalyse durchzuführen: Welche Situationen bergen die Gefahr von Grenzverletzungen und Übergriffen? Auf dieser Basis können präventive Maßnahmen entwickelt werden, die Risiken so weit wie möglich minimieren.

Praktiker:innen sollten sich zudem gezielt Wissen über Gewaltformen und Dynamiken aneignen, um im Ernstfall handlungsfähig zu sein. In Praxisgemeinschaften oder Einrichtungen mit mehreren Mitarbeitenden kann eine Teamsitzung zur Sensibilisierung hilfreich sein, um ein gemeinsames Bewusstsein für Risiken zu schaffen. Regelmäßige Supervisionen unterstützen dabei, Erfahrungen zu reflektieren und einzuordnen. Ein Feedback-Briefkasten oder anonyme Online-Möglichkeiten lassen sich schnell und unkompliziert umsetzen, um Betroffenen eine Stimme zu geben. Informationsmaterial über Beratungsstellen oder weiterführende Fachangebote sollte stets verfügbar sein. Plakate und Sticker mit Notrufnummern oder Informationen zu Kinderrechten, etwa in einer Kinderarztpraxis, signalisieren, dass das Thema ernst genommen wird.

Die Auseinandersetzung mit Risiken im eigenen beruflichen Setting ist herausfordernd, aber sie lohnt sich! Es sollte das Anliegen aller Praktiker:innen sein, Klientinnen und Klienten für ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu sensibilisieren und sie in ihrer Selbstbestimmung zu stärken. Ebenso wichtig ist es, den Berufsstand von Beraterinnen und Beratern, therapeutischen oder ärztlichen Fachkräften in ein positives Licht zu setzen. Klientinnen und Klienten sollen die Erfahrung machen, dass professionelle Unterstützung hilfreich, stärkend und sicher ist. Nur so werden sie sich auch in Zukunft Hilfe holen, wenn sie diese benötigen.

Negative oder verletzende Erfahrungen führen dagegen oft dazu, dass Betroffene beim nächsten Mal zögern oder gar auf Unterstützung verzichten. Genau hier liegt die Verantwortung der Profession: durch transparente, respektvolle und sichere Rahmenbedingungen Vertrauen zu schaffen und Hilfe langfristig zugänglich zu machen.

Darüber hinaus finden tagtäglich Grenzverletzungen und (sexualisierte) Gewalt in den verschiedensten Kontexten statt. Je mehr wir als Gesellschaft darüber sprechen und sensibilisieren, desto eher können Betroffene ihre Erfahrungen einordnen und schneller Hilfe suchen. Sprache und Bewusstsein sind zentrale Schlüssel: Nur wer Worte für das Erlebte findet, kann Grenzen setzen und sich gegebenenfalls Hilfe holen. Auch Eltern kleiner Kinder profitieren davon, wenn dieses Bewusstsein gestärkt wird. Oft erfahren sie in einem Beratungsgespräch zum ersten Mal, dass das Wohl und die Sicherheit des Kindes im Mittelpunkt stehen und dass es ihr gutes Recht ist, kritisch nachzufragen: nicht nur in der Arztpraxis, sondern ebenso im Kindergarten, in der Schule, im Sportverein oder im Ferienlager.

Wenn wir Risiken benennen und Verantwortung übernehmen, schaffen wir Räume, in denen Menschen sich öffnen und entwickeln können und in denen alle Beteiligten lernen, Grenzen zu achten und zu respektieren.

Quellen

Literatur

  • AG. Frauen gegen sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch in Therapie und Beratung (Hrsg.) (1995). Übergriffe und Machtmissbrauch in psychosozialen Arbeitsfeldern. Phänomen, Strukturen, Hintergründe. dgvt-Verlag.
  • Fachhochschule Frankfurt am Main. Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit (Hrsg.) (2011). Grenzverletzungen. Institutionelle Mittäterschaft in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Fachhochschulverlag.
  • Hafke, Christel. (1998). Vertrauen und Versuchung. Über Machtmissbrauch in der Therapie. Rowohlt.
  • Schleu, Andrea (2020). Umgang mit Grenzverletzungen. Professionelle Standards und ethische Fragen in der Psychotherapie. Springer.
  • Tschan, Werner (2005). Missbrauchtes Vertrauen. Sexuelle Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen. Karger.

Weiterführende Informationen